Krän­kung, Elche und Pro­jek­ti­on — Erkennt­nis­se eines nach­denk­li­chen Handtuchwerfers

Hal­lo Ihr Lieben,

nun ist es fast auf den Tag genau vier Jah­re her, dass ich mei­nen sei­ner­zei­ti­gen Blog­bei­trag zur Nie­der­le­gung mei­ner Tätig­keit als Gab­bai (= Mit­glied des Syn­ago­gen­vor­stands) ver­öf­fent­licht habe. In die­sen vier Jah­ren ist mir so Eini­ges an Erleb­nis­sen wider­fah­ren, die mich dazu ver­an­lasst haben, inten­siv über mich und mein Leben nach­zu­den­ken. Dazu gehört unter ande­rem auch mein Ver­hält­nis zur West­end­syn­ago­ge. Als ers­te greif­ba­re Frucht die­ses Reflek­tie­rens ist dabei — vor ziem­lich genau zwei Jah­ren — mein Blog­bei­trag zu mei­nen Yom-Kip­pur-Erleb­nis­sen ent­stan­den. Ich hat­te ihn im Wesent­li­chen ver­fasst, um mit Euch zu tei­len, dass ich den ers­ten Keim einer Sicht­wei­sen­ver­än­de­rung bezüg­lich jener The­men zu spü­ren begann, die ich einst­mals als Haupt­be­weg­grün­de mei­ner zwei Jah­re zuvor voll­zo­ge­nen Amts­nie­der­le­gung ange­ge­ben hatte.

Jetzt ist es mal wie­der kurz vor Yom-Kip­pur, eine Zeit also, in der wir Juden gehal­ten sind, unse­re Taten des ver­gan­ge­nen Jah­res kri­tisch zu reflek­tie­ren, himm­li­sche Ver­ge­bung für Ver­stö­ße gegen die Hand­lungs­vor­schrif­ten unse­res Glau­bens zu erfle­hen und vor allem: unse­re Nächs­ten um Ver­zei­hung für Hand­lun­gen zu bit­ten, mit denen wir ihnen Unrecht getan haben. Mein Ver­hält­nis zur West­end­syn­ago­ge, mei­ne Moti­ve für die sei­ner­zei­ti­ge Amts­nie­der­le­gung und vor allem die damals nicht gera­de in aller Stil­le vor­ge­tra­ge­ne Kri­tik am Ver­hal­ten mei­ner Mit­men­schen in der Syn­ago­ge soll­ten dabei sicher nicht von die­ser Ver­pflich­tung zur kri­ti­schen Selbst­über­prü­fung aus­ge­nom­men blei­ben, denn es könn­te sich ja auch hier­bei am Ende um mög­li­che Ver­feh­lun­gen gegen­über mei­ner sozia­len Umwelt han­deln. Außer­dem ist mir in die­sen letz­ten vier Jah­ren auf jeden Fall mal eines unbe­streit­bar klar gewor­den: die­se Syn­ago­ge, die mich seit 51 Jah­ren beglei­tet, in der ich mei­ne Bar-Miz­wah, mei­nen Hoch­zeits­auf­ruf und so ziem­lich alle reli­giö­sen Fest­lich­kei­ten und Fei­ern mei­ner Fami­lie erlebt habe, in der ich seit über 33 Jah­ren regel­mä­ßig an den Schab­bat- und Feiertagsg*ttesdiensten teil­neh­me — sie liegt mir ein­fach zutiefst am Her­zen und mit ihr die Men­schen, denen ich dort begegne!

Ich möch­te daher ein paar für mich sehr bedeut­sa­me Erkennt­nis­se über mich selbst sowie die dar­aus fol­gen­de Neu­be­wer­tung mei­ner dama­li­gen Gefühls­la­ge mit Euch allen tei­len. Immer­hin habe ich ja damals genau die­ses Forum gewählt, um mei­ne Motiv­la­ge unge­schminkt in die Öffent­lich­keit zu tra­gen, so dass es nur gerecht erscheint, das­sel­be Forum zu nut­zen, um mei­ne heu­ti­ge Sicht­wei­se dar­auf eben­so unge­schminkt in die Öffent­lich­keit zu tra­gen. Ich möch­te sagen: das schul­de ich Euch ein­fach — und irgend­wie natür­lich auch mir selbst…

Krän­kung

Was also war damals wirk­lich in den Tie­fen mei­ner Per­sön­lich­keits­struk­tur gesche­hen? Woher die­se die­se offen­sicht­li­che Krän­kung, die — das ist mei­nem dama­li­gen Bei­trag unzwei­fel­haft anzu­se­hen — zu einem nicht unwe­sent­li­chen Maß an Bit­ter­keit, Groll und Häme geführt hat?

Die oben erwähn­ten, teils sehr belas­ten­den Gescheh­nis­se der ver­gan­ge­nen vier Jah­re, haben es zumin­dest mal mit sich gebracht, dass ich reich­lich Grund und Gele­gen­heit hat­te, aus­gie­big über mich selbst und mei­ne spe­zi­fi­sche Per­sön­lich­keits­struk­tur nach­zu­den­ken und mich mit eini­gen der vie­len lie­ben Men­schen um mich her­um ver­trau­ens­voll, inten­siv und sehr kon­struk­tiv dar­über aus­zu­tau­schen. Im Ergeb­nis habe ich zum ers­ten Mal wirk­lich expli­zit erkannt, dass mei­ne Per­sön­lich­keits­struk­tur so eini­ge Beson­der­hei­ten auf­weist, von denen ich anneh­men muss, dass sie eine erheb­li­che Aus­wir­kung auf mei­nen ganz spe­zi­fi­schen Umgang mit mei­ner sozia­len Umge­bung haben. Dar­auf jetzt im Detail ein­zu­ge­hen, hal­te ich in die­sem Forum für unan­ge­mes­sen. Immer­hin möch­te ich hier ja jetzt kei­nen the­ra­peu­ti­schen Psy­choex­hi­bi­tio­nis­mus à la Woo­dy Allen betrei­ben — jeden­falls kei­nen, der über das hin­aus­geht, was ich hier sowie­so schon über mich selbst aus­plau­de­re. Für die Zwe­cke die­ses Bei­trags soll statt­des­sen fol­gen­de Fest­stel­lung genü­gen: ich set­ze mein Über-Ich ver­mut­lich über­durch­schnitt­lich inten­siv ein, um mei­ne selbst gestell­ten, ziem­lich hohen Ansprü­che an mei­ne Sozi­al­kom­pa­ti­bi­li­tät aufrechtzuerhalten.

Anders aus­ge­drückt: ich unter­wer­fe mein Ver­hal­ten einer stän­di­gen und ziem­lich stren­gen Kon­trol­le durch mein Über-Ich, um der Befürch­tung ent­ge­gen­zu­wir­ken, ich könn­te in mei­ner sozia­len Umge­bung unge­wollt anecken. Die­se eher stren­ge Hal­tung gegen mich selbst bringt es daher unwei­ger­lich mit sich, dass ich locke­re oder bis­wei­len auch nach­läs­si­ge Ver­hal­tens­wei­sen (gemes­sen an mei­nen ganz eige­nen Maß­stä­ben dafür) schwer bis gar nicht tole­rie­ren kann. Sowie­so nicht bei mir selbst, aber eben auch — und jetzt kommt das, wor­auf ich hin­aus will — nicht bei mei­nen Mitmenschen.

ELche

Fritz Weig­le (ali­as F. W. Bern­stein) hat die­sen wun­der­ba­ren Satz als Mot­to der Neu­en Frank­fur­ter Schu­le geprägt:

„Die schärfs­ten Kri­ti­ker der Elche 

waren frü­her sel­ber welche.” 

Er besagt nach mei­nem Ver­ständ­nis (und alle­mal im Kon­text mei­ner hie­si­gen Selbst­be­trach­tung), dass uns an unse­ren Mit­men­schen beson­ders die­je­ni­gen Ver­hal­tens­wei­sen stö­ren, die wir uns selbst zu unter­sa­gen gelernt haben. Mit­zu­er­le­ben, wie jemand sich unter (ver­meint­li­cher?) Miss­ach­tung mei­nes eige­nen, selbst­auf­er­leg­ten Regel­sys­tems Ver­hal­tens­wei­sen her­aus­nimmt, die ich mir müh­sam und unter stän­di­ger Auf­bie­tung einer gehö­ri­gen Por­ti­on Über-Ich-Kapa­zi­tät abtrai­niert habe, berei­tet mir instink­ti­ves Unbe­ha­gen. Es stellt nicht nur mein Wer­te­sys­tem an sich in Fra­ge son­dern schafft gefühl­te Unge­rech­tig­keit nach dem Mot­to: „war­um darf sie/er, was ich nicht darf?”

Die Fra­ge, wer das „Dür­fen” in die­sem Zusam­men­hang bestimmt, mag zunächst dahin­ge­stellt blei­ben. Es ent­steht jeden­falls eine unge­be­te­ne Irri­ta­ti­on mei­nes Sozi­al­kom­pa­ti­bi­li­täts-Flows, deren Quel­le in die­sem Moment ein bestimm­ter Mit­mensch ist. Und genau das emp­fin­de ich bis­wei­len als per­sön­li­chen Affront, der von jenem Mit­mensch ausgeht.

Ob die­ser Mit­mensch sich tat­säch­lich objek­tiv unso­zi­al ver­hält oder nicht (was auch immer „objek­tiv unso­zi­al” sein mag), ist dabei zunächst gar nicht wirk­lich wesent­lich. Es genügt, dass er mei­nen eher fra­gi­len Sozi­al­kom­pa­ti­bi­li­täts-Flow gestört und mei­nen eige­nen Umgang mit mir selbst inso­weit in Fra­ge gestellt hat. Die­ses als irri­tie­ren­de Stör­grö­ße emp­fun­de­ne Ver­hal­ten schreit fol­ge­rich­tig danach, von mir kri­ti­siert zu wer­den, um mei­nen Flow wie­der­her­zu­stel­len. Eine gewis­se Zeit lang kann ich mich unter Auf­bie­tung ande­rer Facet­ten mei­ner Über-Ich-Kapa­zi­tä­ten dabei durch­aus beherr­schen, denn auch das Aus­ras­ten als Reak­ti­on auf sol­che „Affronts” steht natür­lich schon lan­ge selbst auf der inne­ren Ver­bots­lis­te für poten­zi­el­le Unter­mi­nie­run­gen der eige­nen Sozi­al­kom­pa­ti­bi­li­tät. Aber irgend­wann wird Quan­ti­tät dann auch zu einer eige­nen Qua­li­tät und ich füh­le mich genö­tigt, die als sol­che emp­fun­de­ne Stör­quel­le aktiv zu besei­ti­gen. Alter­na­tiv schlu­cke ich den ent­stan­de­nen Groll gewalt­sam her­un­ter und mache einen wei­te­ren Strich an die Lis­te der weg­ge­steck­ten Kränkungen.

Ja, Krän­kun­gen. Denn es hat für mich durch­aus eine her­ab­wür­di­gen­de Kon­no­ta­ti­on, wenn ich mich an einer Stel­le gefan­gen füh­le, an der manch ein Mit­mensch sich unge­hemmt sei­ne Frei­hei­ten her­aus­nimmt. Das schafft für mich so etwas wie ein gefühl­tes Sou­ve­rä­ni­täts­ge­fäl­le. Wenn dann auch noch das oben beschrie­be­ne selbst­auf­er­leg­te Ver­bot hin­zu­kommt, auf die­se als sol­che emp­fun­de­nen Her­ab­wür­di­gun­gen zu reagie­ren, gesellt sich zudem noch ein gewis­ses Gefühl der Wehr­lo­sig­keit hin­zu. Alles zusam­men ist — Bin­go: krän­kend. Und das wie­der­um hat erheb­li­che Aus­wir­kun­gen auf mei­ne Tole­ranz­schwel­le für „Ver­stö­ße” ande­rer gegen mein selbst­auf­er­leg­tes Wertesystem.

Pro­jek­ti­on

Jetzt sind wir eigent­lich schon ganz nahe an dem, was das Fass im Okto­ber 2015 gewis­ser­ma­ßen zum Über­lau­fen gebracht hat. Wann und war­um ich mir eines Tages offen­bar selbst auf­er­legt habe, der tra­di­tio­nell locker geleb­ten Gesel­lig­keit in der West­end­syn­ago­ge zuguns­ten des Anspruchs auf eine fort­wäh­rend bestehen­de andäch­ti­ge Stil­le abzu­schwö­ren, weiß ich nicht mehr genau. Ich kann mich nur erin­nern, in mei­nen jun­gen Gab­bai-Jah­ren ein­mal von einem Gebets­teil­neh­mer in aller Deut­lich­keit dar­auf auf­merk­sam gemacht wor­den zu sein, dass es nach sei­ner Auf­fas­sung zu den vor­nehms­ten Pflich­ten eines Gab­bais gehö­re, für andäch­ti­ge Ruhe im G*ttesdienst zu sor­gen. Gab­bai-Green­horn, wie ich es damals nun ein­mal war, habe ich das dann auch gleich unhin­ter­fragt für bare Mün­ze genom­men. Und es liegt auf der Hand, dass Über-Ich-las­ti­ge Men­schen wie ich sich sowas nicht ger­ne zwei­mal sagen las­sen. Ich und man­geln­de Pflicht­er­fül­lung? Das geht ja wohl gar nicht!

Seit­dem habe ich es also offen­bar als eine Art Beru­fung emp­fun­den, mich in die­ser Hin­sicht beson­ders dienst­be­flis­sen zu zei­gen und vor allem mit gutem Bei­spiel vor­an­zu­ge­hen. Da mögen auch noch ande­re Aspek­te mei­ner Per­sön­lich­keits­struk­tur eine Rol­le gespielt haben, aber wie schon oben erwähnt: das soll hier wirk­lich kein „too much information”-Fall wer­den. Stil­le und Andäch­tig­keit wäh­rend des G*ttesdienstes in der West­end­syn­ago­ge vor­zu­le­ben, wur­de jeden­falls, war­um auch immer, zu einer wei­te­ren Ver­hal­tens­re­gel, die ich mei­nem ganz eige­nen Mecha­nis­mus zur Sozi­al­kom­pa­ti­bi­li­täts­wah­rung hin­zu­zu­fü­gen hat­te. Jetzt war ich Wah­rer und Vor­rei­ter einer neu­en Stren­ge und jeder, der die­ses Selbst­bild durch die ver­mut­lich völ­lig arg­lo­se Fort­füh­rung des gewohn­ten, läs­si­ge­ren Ver­hal­tens in Fra­ge stel­len wür­de, soll­te seit­her zur Stör­quel­le im Sin­ne des oben beschrie­be­nen Reak­ti­ons­mus­ters werden.

Ich will damit nicht sagen, dass die Unru­he in der West­end­syn­ago­ge bis­wei­len nicht ganz objek­tiv in die Nähe der Erträg­lich­keits­gren­ze oder sogar dar­über hin­aus gerät. Der in den 1960er Jah­ren berühmt gewor­de­ne Satz einer unbe­kann­ten Autorin, des­sen Urhe­ber­schaft spä­ter fälsch­li­cher­wei­se Woo­dy Allen, Kurt Cobin und ande­ren zuge­schrie­ben wur­de, bringt es in die­sem Zusam­men­hang auf den Punkt:

„Just becau­se you’­re para­no­id does­n’t mean they are­n’t out to get you” („nur weil du para­no­id bist, bedeu­tet das nicht, dass sie nicht ver­su­chen, dich zu kriegen”)

Tat­säch­lich sind sich eigent­lich alle in der West­end­syn­ago­ge dar­über einig, dass die Unru­he, die dort gera­de zu den Hohen Fei­er­ta­gen immer wie­der ent­steht, ein­deu­tig zuviel des Guten ist. So gese­hen kann man also durch­aus davon spre­chen, dass es sich hier grund­sätz­lich schon um ein objek­ti­ves Pro­blem handelt.

Die Umstand aber, dass ich die Per­so­nen, von denen die­se Unru­he aus­geht, zur Pro­jek­ti­ons­flä­che für den Kampf gegen Ver­let­zun­gen mei­nes selbst­auf­er­leg­ten Stil­le­ge­bots mache, so dass sie in die­sem Sin­ne zu Feind­bil­dern für mich wer­den, ist davon voll­kom­men unab­hän­gig. Mein eige­ner Umgang mit mei­nen selbst­auf­er­leg­ten Ein­schrän­kun­gen ist zunächst ein­mal ein­zig und allei­ne mein Pro­blem und es geziemt sich daher nicht, mei­ne Mit­men­schen dafür zu ver­ur­tei­len, dass sie gegen mei­ne selbst­auf­er­leg­te Stren­ge ver­sto­ßen. Objek­ti­ve Ver­stö­ße gegen die all­ge­mei­nen Regeln des rück­sichts­vol­len Mit­ein­an­ders sind hin­ge­gen in der Tat die Pro­ble­me der­je­ni­gen, die die­se Ver­stö­ße bege­hen. Und genau die­ser wich­ti­ge Unter­schied ist es, der mir in die­ser Deut­lich­keit erst lan­ge nach mei­ner sei­ner­zei­ti­gen Amts­nie­der­le­gung klar gewor­den ist.

Selbst­kri­tik

Ich soll­te an die­ser Stel­le viel­leicht sagen, dass mein Don-Qui­jo­te-arti­ger Kampf gegen die Stör­quel­len-Wind­müh­len sicher nicht das allei­ni­ge Motiv für die sei­ner­zei­ti­ge Nie­der­le­gung mei­nes Amtes gewe­sen ist. Aber der Groll und die ent­spre­chend hef­ti­gen Anfein­dun­gen gegen mei­ne Mit­men­schen, die aus der Ver­mi­schung mei­ner ganz eige­nen Ver­hal­tens­maß­stä­be mit den objek­ti­ven Regeln des rück­sichts­vol­len Mit­ein­an­ders ent­stan­den sind, waren letzt­lich dafür ver­ant­wort­lich, dass ich jene Kluft zwi­schen mir und dem Rest der West­end­syn­ago­gen­welt irgend­wann als unüber­brück­bar emp­fun­den habe. Ich kam mir unver­stan­den, nutz­los und inso­weit über­flüs­sig vor, und der damit ein­her­ge­hen­de Groll hat mich immer mehr dazu gedrängt, end­lich mal ein kla­res, spek­ta­ku­lä­res Zei­chen zu set­zen. Der Rest ist Geschich­te in Form mei­ner dama­li­gen Amts­nie­der­le­gung samt des zuge­hö­ri­gen Blog­bei­trags.

Wenn ich mir nun mit all die­sen Ein­sich­ten gewapp­net heu­te so durch­le­se, was ich aus die­ser Hal­tung her­aus damals geschrie­ben habe, muss ich aner­ken­nen, dass ich mei­ne g*ttesdienstlichen Mit­strei­ter in der Tat mit so man­cher For­mu­lie­rung wahr­lich unge­recht behan­delt habe. Sie kön­nen schlicht nichts dafür, dass mei­ne Per­sön­lich­keits-Hard­ware es mir oft so schwer macht, mit bestimm­ten Ver­hal­tens­wei­sen mei­ner Umwelt gelas­sen umzu­ge­hen. Ihnen daher man­geln­de spi­ri­tu­el­le Tie­fe oder über­haupt irgend­wel­che Moti­ve für den G*ttesdienstbesuch zu unter­stel­len, die auf einer wie auch immer gear­te­ten nied­ri­ge­ren Wert­stu­fe ange­sie­delt sein soll­ten, ist daher — anders kann ich es aus heu­ti­ger Sicht nicht sagen — ein­fach nur anma­ßend. Genau genom­men steht es mir eben­so wenig wie jedem ande­ren zu, die ver­mu­te­ten Moti­ve mei­ner Mit­men­schen für ihre Teil­nah­me am G*ttesdienst einem Wert­ur­teil zu unter­zie­hen. Was ich damit mei­ne, sei an fol­gen­dem Bei­spiel aus mei­nem dama­li­gen Blog­bei­trag illustriert:

„Der über­wie­gen­de Teil der all­wö­chent­li­chen G*ttesdienstteilnehmer [sucht] vor allem so etwas wie sozia­le Begeg­nun­gen, Gesel­lig­keit und Gra­tis­ver­kös­ti­gung mit einem biss­chen ‚Jid­disch­keit’ als unauf­dring­li­cher Hin­ter­grund­mu­sik. Das gilt frei­lich umso mehr für das Publi­kum, das sich zu den Hohen Fei­er­ta­gen oder an Sim­chat-Torah bzw. Purim einfindet.”

Klingt ober­fläch­lich ein­fach nur wie eine sach­kun­di­ge Fest­stel­lung. Und lan­ge Zeit habe ich es auch für nichts ande­res als eine sol­che gehal­ten, so dass ich die­sen Satz gegen die weni­ge Kri­tik, die mir dazu expli­zit ange­tra­gen wur­de, ent­spre­chend in Schutz genom­men habe. Der gra­vie­ren­de Feh­ler im Sys­tem liegt hier aber aus heu­ti­ger Sicht dar­in, dass ich mei­ne sub­jek­ti­ven — oder sagen wir eher: selbst­auf­er­leg­ten — Maß­stä­be für „rich­ti­ges” Ver­hal­ten und die „rich­ti­gen” Moti­ve zur objek­ti­ven Wahr­heit hoch­sti­li­siert und mir zudem ange­maßt habe, eine auf die­sen Maß­stä­ben beru­hen­de öffent­li­che Bewer­tung der Moti­ve ande­rer Gebets­teil­neh­mer vor­zu­neh­men. Das war zuge­ge­be­ner­ma­ßen ein ech­ter Griff ins Klo. Weni­ger ordi­när muss man es wohl auch nicht sagen…

Spä­tes­tens zum Aus­gang von Yom-Kip­pur im Jah­re 2017 habe ich gemäß mei­nem damals dazu ver­fass­ten Blog­bei­trag end­lich erkannt, dass auch die­je­ni­gen, die sich fast den gesam­ten Fei­er­tag lang schein­bar voll­kom­men vom G*ttesdienstgeschehen abkop­peln und sich statt­des­sen inten­si­ven (und ver­mut­lich nicht sel­ten pro­fa­nen) Gesprä­chen mit ihren Nach­barn wid­men, am Ende ihre ganz eige­nen und sicher nicht min­der inten­si­ven spi­ri­tu­el­len Momen­te in der Syn­ago­ge erle­ben, die genau der Grund dafür sind, dass sie nächs­tes Mal wie­der­kom­men und sich letzt­lich nicht min­der tief mit der Syn­ago­ge, der Gemein­schaft und dem Juden­tum ver­wur­zelt füh­len als ich selbst. Punkt.

Noch­mal: das soll nicht hei­ßen, dass ich jetzt plötz­lich jed­we­des Ver­hal­ten in der Syn­ago­ge auto­ma­tisch als tole­ra­bel pro­kla­mie­ren will. Jeder von uns wird am Ende für sich selbst zu beur­tei­len haben, wel­ches Ver­hal­ten akzep­ta­bel ist und wo er sich bis­wei­len auch mal genö­tigt sieht, sei­ne G*ttesdienstmitstreiter auf effek­ti­ve Grenz­über­schrei­tun­gen auf­merk­sam zu machen. Dar­aus jedoch Schlüs­se über die Ernst­haf­tig­keit des Glau­bens und die Tie­fe der Gemein­schafts­ver­bun­den­heit ande­rer Gebets­teil­neh­mer zu zie­hen und die­se Schlüs­se auch noch wer­tend in alle Öffent­lich­keit zu tra­gen, ist — das muss ich jetzt vor­be­halts­los aner­ken­nen — dadurch noch lan­ge nicht gerechtfertigt.

Die Pia­no-Bar-Meta­pher, die mir in den Jah­ren danach immer mal wie­der als abschät­zig vor­ge­hal­ten wur­de, ist ein ande­res Bei­spiel. Eigent­lich war sie ja wirk­lich nur als krea­ti­ve Meta­pher gedacht, die in aller Deut­lich­keit ver­sinn­bild­li­chen soll­te, inwie­weit sich mein eige­ner Anspruch von dem­je­ni­gen unter­schei­det, den ich den sons­ti­gen Syn­ago­gen­be­su­chern unter­stellt habe. Aber ganz so nüch­tern und aka­de­misch, wie ich die Meta­pher ver­stan­den wis­sen woll­te, funk­tio­niert es halt am Ende nicht, denn das Wort „Pia­no-Bar” ist nun ein­mal mit einer gewis­sen Bedeu­tung asso­zi­iert, deren Sug­ges­ti­ons­kraft man beim Schrei­ben eines sol­chen Bei­trags nicht außer Acht las­sen kann. Und — die Psy­cho­lo­gen unter Euch wer­den es sicher schon gedacht haben — so wirk­lich zufäl­lig wird mir gera­de die­se Meta­pher dann ja auch nicht in den Sinn gekom­men sein. Ich hät­te ja auch genau­so gut von einer vor­fahrts­ge­re­gel­ten ver­sus einer unge­re­gel­ten Stra­ßen­kreu­zung oder so schrei­ben kön­nen. Habe ich aber nicht. Aus heu­ti­ger Sicht: lei­der nicht.

Anfein­dun­gen

Auch wenn ich mir durch­aus attes­tie­ren muss, dass ich damals eigent­lich jed­we­de direk­te per­sön­li­che Anfein­dung ver­mei­den woll­te, ist mein Bei­trag nicht frei von Andeu­tun­gen kon­kre­ter Per­so­nen, die für den geüb­ten G*ttesdienstteilnehmer mög­li­cher­wei­se auf­grund mei­ner Wort­wahl iden­ti­fi­zier­bar sind. Man könn­te jetzt ein­wen­den, dass sich die­se Per­so­nen das dann eben auf­grund des offen­sicht­li­chen Wie­der­erken­nungs­werts ihres dem­entspre­chend auf­fäl­li­gen Ver­hal­tens letzt­lich selbst zuzu­schrei­ben haben. Es muss ja auch gar nicht aus­ge­schlos­sen sein, dass die betref­fen­den Per­so­nen ganz unab­hän­gig von mei­ner indi­vi­du­el­len Wahr­neh­mung durch­aus Anlass hät­ten, sich selbst­kri­tisch mit ihrem eige­nen Ver­hal­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen. Allein: das ist nicht mei­ne Sache, und nicht ohne Grund schreibt der Baby­lo­ni­sche Tal­mud in Baba Met­zia 59a, dass es die ange­neh­me­re Wahl sei, sich in einen glü­hen­den Brenn­ofen wer­fen zu las­sen, als ande­re Men­schen bloß­zu­stel­len, nur um das zu vermeiden:

„נוח לו לאדם שיפיל עצמו לכבשן האש ואל ילבין פני חבירו ברבים”

Mei­ne eige­ne als sol­che emp­fun­de­ne Krän­kung durch den (sicher eher heim­li­chen) Ver­such zu kom­pen­sie­ren, die Mit­men­schen, von denen die Krän­kung (ver­meint­lich) aus­ging, eben­falls zu krän­ken — das ist ein Ver­hal­ten, auf des­sen Unter­drü­ckung ich mei­nen oben dar­ge­leg­ten Mecha­nis­mus zur Wah­rung mei­ner Sozi­al­kom­pa­ti­bi­li­tät bes­ser hät­te pro­gram­mie­ren sol­len. Und eigent­lich war ich bis­lang auch der Mei­nung, dass mir das fast immer vor­bild­lich gelun­gen sei. So kann man sich täuschen.

Die jah­re­lan­ge Unwil­lig­keit, mir gera­de die­ses schwer ver­zeih­li­che Ver­säum­nis ein­zu­ge­ste­hen, hat bis heu­te dazu geführt, dass ich mich statt­des­sen lie­ber wei­ter treff­lich über die gefühl­ten Unzu­läng­lich­kei­ten der von mir indi­rekt ange­pran­ger­ten Mit­men­schen echauf­fiert habe, um mei­ner Kri­tik nach­träg­lich doch noch die nöti­ge Recht­fer­ti­gung zu ver­lei­hen. Und den­noch: es nagt bis heu­te an mir, dass ich mich zu so einer Äuße­rung habe hin­rei­ßen las­sen. Ich ver­ste­he jetzt zwar den inne­ren Mecha­nis­mus, der das her­vor­ge­bracht hat, aber zu rich­ti­gem Ver­hal­ten wird es dadurch natür­lich längst noch nicht.

Ent­schul­di­gung

Tja — es geht, wie gesagt, auf Yom-Kip­pur zu und jetzt, wo das Eis zu schmel­zen beginnt, das eine Schnee­kö­ni­gin namens „Lebens­ge­schich­te” um mein Herz gelegt hat, ist die Zeit gekom­men, auf Basis der oben dar­ge­leg­ten Selbst­er­kennt­nis­se über sei­nen Schat­ten zu sprin­gen und die­je­ni­gen auf­rich­tig um Ent­schul­di­gung zu bit­ten, denen ich damals, in mei­nem ver­mut­lich weit­ge­hend selbst­ge­schaf­fe­nen Groll, offen­sicht­li­ches Unrecht getan habe:

Ich bit­te Euch alle daher hier­mit wirk­lich in aller Auf­rich­tig­keit dafür um Ent­schul­di­gung, dass ich mir sei­ner­zeit ange­maßt habe, Eure Moti­ve für den G*ttesdienstbesuch über­haupt einer ver­öf­fent­lich­ten Bewer­tung zu unter­zie­hen und das zudem auch noch auf abwer­ten­de Wei­se getan habe. Das stand und steht mir nicht zu, und es tut mir in die­sem Moment sehr leid, dass mein dama­li­ger Groll mir den Blick für die damit ein­her­ge­hen­de Ver­let­zung Eurer Wür­de ver­stellt hat.

Ich bit­te jed­we­de Per­son, die von einem Leser mei­nes dama­li­gen Bei­trags mög­li­cher­wei­se kon­kret als „einer der reni­ten­tes­ten Stö­rer” iden­ti­fi­ziert wor­den sein könn­te, eben­so auf­rich­tig um Ent­schul­di­gung für die damit ein­her­ge­hen­de Bloß­stel­lung, die nicht nur den fun­da­men­ta­len Prin­zi­pi­en des jüdi­schen Glau­bens, son­dern vor allem mei­ner ganz per­sön­li­chen Ethik dia­me­tral ent­ge­gen­steht. Das war falsch von mir und es tut mir sehr, sehr leid, dass ich damit mög­li­cher­wei­se Krän­kun­gen her­vor­ge­ru­fen habe, deren Wir­kung ich selbst nur all­zu gut nach­voll­zie­hen kann. Soll­te das Schrei­ben die­ses Teils mei­nes dama­li­gen Bei­trags mir tat­säch­lich jemals so etwas wie Genug­tu­ung für selbst emp­fun­de­ne Krän­kun­gen ver­lie­hen haben, so ist sie jeden­falls sehr schnell ver­flo­gen und längst der Scham gewi­chen, mei­ne eige­nen Maß­stä­be so ekla­tant ver­letzt zu haben. Ich möch­te die betref­fen­den Per­so­nen auf­rich­tig bit­ten, mir das zu ver­ge­ben und hof­fe sehr, dass ich nie wie­der der­art zu Las­ten mei­ner Mit­men­schen in mei­ne eige­ne Fal­le tappe.

Zu guter Letzt: die West­end­syn­ago­ge ist selbst­ver­ständ­lich kei­ne Pia­no-Bar. Das habe ich ganz ehr­lich nie so sagen wol­len, aber ich gebe zu, dass mei­ne Meta­pher — naja — zumin­dest mal unge­schickt gewählt war, und auch das tut mir in die­sem Moment sehr leid. Die West­end­syn­ago­ge ist und bleibt selbst­ver­ständ­lich mei­ne syn­ago­ga­le Hei­mat und ein Ort, der mir für immer am Her­zen lie­gen wird.

Möge es uns allen stets gege­ben sein, die Wür­de unse­rer Mit­men­schen aus vol­lem Her­zen so wah­ren zu kön­nen, wie wir unse­re eige­ne Wür­de gewahrt wis­sen wol­len, und möge uns allen ein „Gmar Cha­ti­mah tovah” — eine zum Guten enden­de Besie­ge­lung unse­rer mora­li­schen Bilanz des ver­gan­ge­nen hebräi­schen Kalen­der­jahrs beschert sein!

Alles Lie­be

Dani­el

3 Kommentare

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  • WOW! Die­ser Bei­trag ist kei­ne leich­te Kost! Auch wenn ich in die­sem Rah­men nicht im ein­zel­nen auf die auf­ge­wor­fe­nen The­men und (wun­den) Punk­te ein­ge­hen möch­te, so sei doch gesagt, dass ich noch auf kei­nen ehr­li­che­ren und zeit­ge­mäs­se­ren Vidui gestos­sen bin. Jeder von uns hat doch unser ganz eige­nes Asham­nu, Bag­ad­nu,… und nur weni­ge sind in der Lage sich selbst Ihre Schwä­chen und Ver­feh­lun­gen ein­zu­ge­ste­hen, geschwei­ge denn, zu öffent­lich zu pro­kla­mie­ren. Allein dafür gebührt Dir mein höchs­ter Respekt! Möge die­ser Jom Kip­pur uns ermög­li­chen, ande­ren und uns selbst Ver­ge­bung zu gewäh­ren und mögen wir alle im neu­en Jahr mehr Ein­sicht, Ver­ständ­nis und Tole­ranz gegen­über unse­ren Mit­men­schen und uns selbst aufbringen.

  • Lie­ber Dani­el! Dein selbst­kri­ti­scher Bei­trag ist mutig und berührt mich sehr.
    Gmar Cha­ti­ma Tova!!!
    Vie­len Dank, dass ich Anteil haben darf.

  • Respekt Dani­el! Wenn nicht von dir hät­ten die Wor­te, wenn auch nicht ganz so gut arti­ku­liert, auch von mir stam­men kön­nen. Es Bedarf sehr viel inne­re Grö­ße mit sich selbst so in die Kri­tik gehen zu kön­nen und dies vor Allem öffent­lich zu tun. Wie gesagt: mir geht es oft ähn­lich und auch ich erwi­sche mich häu­fig in ähn­li­chen Gedan­ken­struk­tu­ren, Hand­lun­gen und resul­tie­ren­den, ver­meid­ba­ren Kon­flikt­si­tua­tio­nen. Mit die­sem Blog-Bei­trag sprichst du mir zu 100% aus der See­le. Als Dan­ke­schön lese ich mir zum neu­en Jahr erneut die gesam­te Man­del­brot­se­rie durch 😉 Ganz ohne einen Spei­er-Esquen Spruch hät­te ich mei­nen ers­ten Bei­trag auf dei­nem Blog ja doch nicht abschlie­ßen kön­nen. Any­ways: Sha­na- und gmar cha­ti­ma tova!

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