Hallo Ihr Lieben,
vor einer ganzen Weile bin ich von meinem Bruder auf ein YouTube-Video aufmerksam gemacht worden, welches das Vordringen in eine bislang unerreichte Vergrößerungsstufe in der Visualisierung der sogenannten „Mandelbrotmenge” zeigt:
Mal abgesehen von der bewegenden Begleitmusik in Gestalt des ersten Satzes aus Beethovens Klaviersonate Nr. 14 – der sogenannten „Mondscheinsonate” – stellt das für den unbedarften Betrachter vermutlich wenig mehr dar, als ein zweifellos hochgradig ästhetisches Kaleidoskop aus wundersam ineinandergelagerten Schnörkeln, Formen und Mustern, die teils an Unterwasserlebewesen, teils an Küstenlinien und teils an Einzellermikroskopie erinnern.
Die Mandelbrotmenge für Nerds
Das eigentlich Faszinierende an der Mandelbrotmenge ist jedoch der Umstand, dass sie trotz ihrer unendlich tief verschachtelten und mit immer neuen Formvariationen aufwartenden Struktur, wie sie im obigen Video sehr anschaulich zu sehen ist, auf einer außerordentlich simplen Definition beruht:
„Och nee – jetzt lässt er doch echt hemmungslos raushängen, dass er mal Informatik studiert hat und will uns hier damit beeindrucken, dass er mit kryptischen mathematischen Definitionen um sich schmeißt, von denen er auch noch selbstgefällig behauptet, sie würden etwas ‚außerordentlich Simples’ beschreiben.”
Jaja, ich weiß: die Mathematikaversen unter Euch habe ich jetzt also womöglich gleich vor den Kopf gestoßen. Aber keine Sorge: es geht mir hier gerade nicht darum, meine durch das Video wiedererweckte Faszination für die Mandelbrotmenge und all das, was dahintersteht, mit diesem Beitrag in exhibitionistischer Manier als Ausdruck einer etwaigen Affinität zu bizarrer Geek-Erotik zu präsentieren. Im Gegenteil: ich habe mir vorgenommen, diese kleine Beitragsserie zu verfassen, um meine Faszination mit Euch zu teilen – und zwar mit Euch allen, also insbesondere mit den Mathematikaversen unter Euch, bei denen die oben präsentierte Formelsprache vermutlich jetzt schon übelkeitsträchtige Assoziationen an längst verdrängt geglaubte Traumata aus dem schulischen Mathematikunterricht hervorgerufen hat.
Anschauung statt Formalismus
Um diese Faszination über die rein visuelle Ästhetik hinaus nachvollziehen zu können, muss man allerdings schon ein wenig über die Hintergründe der Mandelbrotmenge wissen. Diese Hintergründe wiederum erschließen sich dem nicht-mathematischen Menschen wohl kaum in Form langatmiger akademischer Herleitungen anhand von Formeln, Definitionen, Theoremen und Beweisen – also gerade so, wie es allzu gerne in Lehrbüchern und wissenschaftlichen Abhandlungen nach guter deutscher Tradition gemacht wird. Die oben vorgestellte formale Definition der Mandelbrotmenge mit Hilfe mathematischer Notation und Formelsprache dürfte als abschreckendes Beispiel für die Meisten von Euch genügend Überzeugungskraft zur Bestätigung des eben Gesagten entfaltet haben.
Stattdessen würde ich im Folgenden gerne den Versuch unternehmen, die Mandelbrotmenge ganz im Sinne dessen zu erklären, was sie meiner Ansicht nach ist: eine bestechend schöne Veranschaulichung für die Ästhetik, die der Mathematik als wohl reinster Form in sich abgeschlossenen Denkens innewohnt. Das Motto der folgenden Ausführungen muss demzufolge „Veranschaulichung” lauten. Ich werde daher – hoch und heilig versprochen – redlich bestrebt sein, so wenig wie möglich auf die üblichen Ausdrucksmittel der Mathematik zu setzen und stattdessen die Anschauung zu bemühen, wo immer mir etwas einfällt, was ich dafür als geeignet erachte.
Natürliche Zahlen
Unser Erkundungspfad zur Mandelbrotmenge beginnt – der Untertitel dieses Beitrags suggeriert es bereits – beim alltäglichen Zählen.
Schon in frühestem Kindesalter reift bei uns (normalerweise) die Erkenntnis, dass die Dinge um uns herum sich deutlich voneinander abgrenzen lassen, also jeweils eigene, von anderen Dingen klar unterscheidbare Entitäten bilden. „Mutter”, „Vater”, „Schrank”, „Bild”, „Fenster”, „Tisch”, „Teddybär” – was auch immer: es sind dies für sich klar abgegrenzte Dinge, die anders sind als all die anderen für sich abgrenzbaren Dinge. Gleichzeitig reift aber in diesem Zusammenhang schnell die Erkenntnis, dass manche dieser unterscheidbaren Dinge in irgendeiner Form gleichartig und insofern zusammengehörig sind. Das bringt uns dazu, die Dinge um uns herum in verschiedene Gruppen zu unterteilen, die aus lauter derart als zusammengehörig wahrgenommenen Objekten bestehen – also etwa „Kuscheltiere”, „Menschen” oder „Einrichtungsgegenstände”.
Irgendwann einmal dämmert uns dann wohl auch, dass diese Gruppen jeweils aus unterschiedlich vielen Objekten bestehen können. Manche Gruppen haben weniger Dinge als andere. Wir entwickeln damit also einen Begriff für das, was wir gemeinhin als „Anzahl” bezeichnen. Schnell beginnen wir dann auch bestimmten, immer wiederkehrenden Anzahlen dieser Art eigene Bezeichnungen zuzuweisen – also etwa „Eins”, „Zwei” und „Drei”.
Und schon ist das entstanden, was der Mathematiker die „Menge der Natürlichen Zahlen” nennt und gerne mit dem Symbol „” bezeichnet. Die natürlichen Zahlen beginnen demnach mit der kleinstmöglichen Anzahl an Gruppenmitgliedern – also der Eins – und setzen sich fort, indem man gedanklich immer ein weiteres Gruppenmitglied hinzufügt. Diesen Prozess kann man – wenn man genug Zeit hat – offensichtlich beliebig lange fortführen, womit auch klar ist, dass es unendlich viele natürliche Zahlen geben muss.
Was haben wir daraus gelernt? Zunächst einmal folgendes:
- Die natürlichen Zahlen haben eine kleinste Zahl, nämlich die „Eins”
- Jede natürliche Zahl hat einen direkten Nachfolger, der dadurch ensteht, dass man die betrachtete Zahl um eins vergrößert.
- Auf diese Weise entsteht eine eindeutig festgelegte Reihenfolge oder – wie die Mathematiker sagen – eine Ordnung unter den natürlichen Zahlen.
- Es gibt unendlich viele natürliche Zahlen.
Rechnen
Dass man immer eine nächste Zahl erhält, wenn man zu einer gegebenen Zahl eins hinzuzieht, ist gleichzeitig die einfachste Art dessen, was wir schon in der Grundschule als „Addition” kennengelernt haben: man gelangt zu einer weiteren Zahl, indem man zu einer gegebenen Zahl etwas hinzufügt. Das muss sich allerdings nicht auf eine einzelne Einheit beschränken. Genauso gut kann man einer gegebenen Zahl auch gleich mehrere Einheiten hinzufügen, was im Ergebnis nichts anderes bedeutet, als dass man den Vorgang „eins hinzufügen” mehrfach hintereinander ausführt.
Aber gerade weil sich jede Hinzufügung mehrerer Einheiten als nacheinander ausgeführte Hinzufügung einer einzelnen Einheit verstehen lässt, ist auch offensichtlich, dass die Zahl, die nach der Hinzufügung beliebig vieler Einheiten entsteht, selbst wieder ein Element der natürlichen Zahlen ist: man hätte ja genauso gut bei der ursprünglichen Zahl anfangen können und ihr oft genug nacheinander eine einzelne Einheit hinzufügen können, bis man auf dasselbe Ergebnis gekommen wäre. Und diese hintereinander ausgeführten Einzelhinzufügungsvorgänge bringen uns ja für sich genommen, wie oben festgestellt, immer zur jeweils nächsten natürlichen Zahl, so dass auch das Endergebnis dieser fortgesetzten Einzelhinzufügungen eine natürliche Zahl sein muss. Mit anderen Worten: ob man mehrfach hintereinander jeweils eine Einheit oder all diese Einheiten auf einmal hinzufügt, ist dasselbe. Bei ersterem wissen wir, dass wir am Ende zu einer weiteren natürlichen Zahl gelangen, also wissen wir es auch für letzteres.
Kurz: das Ergebnis der Addition zweier natürlicher Zahlen ist immer auch selbst eine natürliche Zahl.
„Ey – wieso erzählt er uns das alles? Können wir nicht zählen oder was?”
Ja, schon klar: das klingt jetzt irgendwie banal. Aber das ist es nicht wirklich, wie Ihr gleich sehen werdet. Denn es gibt ja neben der Addition – wie wir alle wissen – ihren intuitiven Antagonisten: die Subtraktion. Anstatt eine oder mehrere Einheiten hinzuzufügen, sorgt die Subtraktion dafür, dass eine bestimmte Anzahl an Einheiten entfernt wird. Auch das kann man sich als mehrfach hintereinander ausgeführtes Entfernen jeweils einer einzelnen Einheit vorstellen.
So weit, so gut. Aber wenn ich oft genug hintereinander solche Einheiten entferne, kann es mir passieren, dass irgendwann mal keine mehr übrig ist. Und noch schlimmer: wenn ich mehr Einheiten entfernen will, als meine gegebene Zahl beinhaltet, dann lande ich nicht nur bei „nichts mehr übrig” sondern auf absonderliche Weise bei „weniger als nichts mehr übrig”.
Anders gesagt: es kann passieren, dass das Ergebnis einer Subtraktion nicht mehr Element der natürlichen Zahlen ist. Die simple Rechnung „2 minus 3” ist so ein Beispiel: es gibt keine natürliche Zahl, der man „3” hinzufügen könnte, um „2” zu erhalten. Es ist überhaupt irgendwie absurd zu verlangen, dass man weniger erhalten soll, als man gerade hinzugefügt hat.
Diese Erkenntnis ist nachweislich über 2.000 Jahre alt und hat schon im damaligen China zu der Überlegung geführt, dass man etwas tun muss, wenn man will, dass Rechnungen der Form „2–3” ein definiertes Ergebnis innerhalb unserer bekannten Zahlenwelt haben sollen. Was das ist und warum man dafür eine gewisse Vorstellungskraft benötigt, werden wir im nächsten Teil dieser Beitragsserie sehen.
Alles Liebe
Daniel
Vielen Dank. Gefällt mir ganz hervorragend. Mathematik ist eben vor allem erst einmal schön, das ist auch die Faszination der Mandelbrot-Menge.
Danke für die ermutigende Rückmeldung. Ich hoffe, diese Haltung wird von dem, was da demnächst noch kommt, nicht getrübt… Ich gebe mir jedenfalls Mühe. Versprochen!
Chapeau! Sehr interessant und anschaulich dargelegt! Bin ja mal gespannt darauf, wie‘s weitergeht!
Danke für die Blumen. Ich werde mir redliche Mühe geben, die offenbar geweckten Erwartungen an die weiteren Folgen dieser Beitragsserie nicht zu enttäuschen.
Lieber Daniel,
Das Zahlenspiel hat mich sofort an eine Geschichte erinnert, und ich konnte es nicht widerstehen, diese nochmal zu erzählen:
WIE BERECHNET MAN EINE RENDITE
Der schlechteste Schüler, der Junge Moritz Kohn, besteht mit Ach und Krach nach einer Nachprüfung in Mathematik das Abitur. Im Leben hat er mehr Glück. Wird wohlhabend, geradezu steinreich, und fährt einen Rolls Royce.
An einer Kreuzung bei Rot hält er an und entdeckt neben sich seinen alten Mathematik Professor. Natürlich als Fußgänger, in einem alten, schon etwas schäbigen Mantel mit einem verdeptschten Hut. Der alte Professor erkennt seinen damaligen Schüler und ruft erstaunt aus:
„Kohn! Sie fahren einen Rolls Royce, Sie waren doch eine Niete in Mathematik, wie kommen Sie zu so einem Wohlstand?“
„Schauen Sie, Herr Professor“, antwortet Kohn, „ich kaufe alte Stahlknüppel für einen Euro, verkaufe sie für vier Euro, und von die drei PROZENT leb ich“
Da muss ich natürlich gleich mit dem anderen Mathewitz-Klassiker kontern:
Sagt der Mathelehrer zu seinen Schülern bei der Rückgabe der jüngsten Mathearbeit: „Also Leute, an dieser Arbeit kann man mal wieder sehen, dass siebzig Prozent von euch keine Ahnung von Mathe haben.” Darauf antwortet Fritzchen: „Aber, Herr Lehrer, so viele sind wir doch gar nicht…”