Hallo Ihr Lieben,
nun ist es fast auf den Tag genau vier Jahre her, dass ich meinen seinerzeitigen Blogbeitrag zur Niederlegung meiner Tätigkeit als Gabbai (= Mitglied des Synagogenvorstands) veröffentlicht habe. In diesen vier Jahren ist mir so Einiges an Erlebnissen widerfahren, die mich dazu veranlasst haben, intensiv über mich und mein Leben nachzudenken. Dazu gehört unter anderem auch mein Verhältnis zur Westendsynagoge. Als erste greifbare Frucht dieses Reflektierens ist dabei — vor ziemlich genau zwei Jahren — mein Blogbeitrag zu meinen Yom-Kippur-Erlebnissen entstanden. Ich hatte ihn im Wesentlichen verfasst, um mit Euch zu teilen, dass ich den ersten Keim einer Sichtweisenveränderung bezüglich jener Themen zu spüren begann, die ich einstmals als Hauptbeweggründe meiner zwei Jahre zuvor vollzogenen Amtsniederlegung angegeben hatte.
Jetzt ist es mal wieder kurz vor Yom-Kippur, eine Zeit also, in der wir Juden gehalten sind, unsere Taten des vergangenen Jahres kritisch zu reflektieren, himmlische Vergebung für Verstöße gegen die Handlungsvorschriften unseres Glaubens zu erflehen und vor allem: unsere Nächsten um Verzeihung für Handlungen zu bitten, mit denen wir ihnen Unrecht getan haben. Mein Verhältnis zur Westendsynagoge, meine Motive für die seinerzeitige Amtsniederlegung und vor allem die damals nicht gerade in aller Stille vorgetragene Kritik am Verhalten meiner Mitmenschen in der Synagoge sollten dabei sicher nicht von dieser Verpflichtung zur kritischen Selbstüberprüfung ausgenommen bleiben, denn es könnte sich ja auch hierbei am Ende um mögliche Verfehlungen gegenüber meiner sozialen Umwelt handeln. Außerdem ist mir in diesen letzten vier Jahren auf jeden Fall mal eines unbestreitbar klar geworden: diese Synagoge, die mich seit 51 Jahren begleitet, in der ich meine Bar-Mizwah, meinen Hochzeitsaufruf und so ziemlich alle religiösen Festlichkeiten und Feiern meiner Familie erlebt habe, in der ich seit über 33 Jahren regelmäßig an den Schabbat- und Feiertagsg*ttesdiensten teilnehme — sie liegt mir einfach zutiefst am Herzen und mit ihr die Menschen, denen ich dort begegne!
Ich möchte daher ein paar für mich sehr bedeutsame Erkenntnisse über mich selbst sowie die daraus folgende Neubewertung meiner damaligen Gefühlslage mit Euch allen teilen. Immerhin habe ich ja damals genau dieses Forum gewählt, um meine Motivlage ungeschminkt in die Öffentlichkeit zu tragen, so dass es nur gerecht erscheint, dasselbe Forum zu nutzen, um meine heutige Sichtweise darauf ebenso ungeschminkt in die Öffentlichkeit zu tragen. Ich möchte sagen: das schulde ich Euch einfach — und irgendwie natürlich auch mir selbst…
Kränkung
Was also war damals wirklich in den Tiefen meiner Persönlichkeitsstruktur geschehen? Woher diese diese offensichtliche Kränkung, die — das ist meinem damaligen Beitrag unzweifelhaft anzusehen — zu einem nicht unwesentlichen Maß an Bitterkeit, Groll und Häme geführt hat?
Die oben erwähnten, teils sehr belastenden Geschehnisse der vergangenen vier Jahre, haben es zumindest mal mit sich gebracht, dass ich reichlich Grund und Gelegenheit hatte, ausgiebig über mich selbst und meine spezifische Persönlichkeitsstruktur nachzudenken und mich mit einigen der vielen lieben Menschen um mich herum vertrauensvoll, intensiv und sehr konstruktiv darüber auszutauschen. Im Ergebnis habe ich zum ersten Mal wirklich explizit erkannt, dass meine Persönlichkeitsstruktur so einige Besonderheiten aufweist, von denen ich annehmen muss, dass sie eine erhebliche Auswirkung auf meinen ganz spezifischen Umgang mit meiner sozialen Umgebung haben. Darauf jetzt im Detail einzugehen, halte ich in diesem Forum für unangemessen. Immerhin möchte ich hier ja jetzt keinen therapeutischen Psychoexhibitionismus à la Woody Allen betreiben — jedenfalls keinen, der über das hinausgeht, was ich hier sowieso schon über mich selbst ausplaudere. Für die Zwecke dieses Beitrags soll stattdessen folgende Feststellung genügen: ich setze mein Über-Ich vermutlich überdurchschnittlich intensiv ein, um meine selbst gestellten, ziemlich hohen Ansprüche an meine Sozialkompatibilität aufrechtzuerhalten.
Anders ausgedrückt: ich unterwerfe mein Verhalten einer ständigen und ziemlich strengen Kontrolle durch mein Über-Ich, um der Befürchtung entgegenzuwirken, ich könnte in meiner sozialen Umgebung ungewollt anecken. Diese eher strenge Haltung gegen mich selbst bringt es daher unweigerlich mit sich, dass ich lockere oder bisweilen auch nachlässige Verhaltensweisen (gemessen an meinen ganz eigenen Maßstäben dafür) schwer bis gar nicht tolerieren kann. Sowieso nicht bei mir selbst, aber eben auch — und jetzt kommt das, worauf ich hinaus will — nicht bei meinen Mitmenschen.
ELche
Fritz Weigle (alias F. W. Bernstein) hat diesen wunderbaren Satz als Motto der Neuen Frankfurter Schule geprägt:
„Die schärfsten Kritiker der Elche
waren früher selber welche.”
Er besagt nach meinem Verständnis (und allemal im Kontext meiner hiesigen Selbstbetrachtung), dass uns an unseren Mitmenschen besonders diejenigen Verhaltensweisen stören, die wir uns selbst zu untersagen gelernt haben. Mitzuerleben, wie jemand sich unter (vermeintlicher?) Missachtung meines eigenen, selbstauferlegten Regelsystems Verhaltensweisen herausnimmt, die ich mir mühsam und unter ständiger Aufbietung einer gehörigen Portion Über-Ich-Kapazität abtrainiert habe, bereitet mir instinktives Unbehagen. Es stellt nicht nur mein Wertesystem an sich in Frage sondern schafft gefühlte Ungerechtigkeit nach dem Motto: „warum darf sie/er, was ich nicht darf?”
Die Frage, wer das „Dürfen” in diesem Zusammenhang bestimmt, mag zunächst dahingestellt bleiben. Es entsteht jedenfalls eine ungebetene Irritation meines Sozialkompatibilitäts-Flows, deren Quelle in diesem Moment ein bestimmter Mitmensch ist. Und genau das empfinde ich bisweilen als persönlichen Affront, der von jenem Mitmensch ausgeht.
Ob dieser Mitmensch sich tatsächlich objektiv unsozial verhält oder nicht (was auch immer „objektiv unsozial” sein mag), ist dabei zunächst gar nicht wirklich wesentlich. Es genügt, dass er meinen eher fragilen Sozialkompatibilitäts-Flow gestört und meinen eigenen Umgang mit mir selbst insoweit in Frage gestellt hat. Dieses als irritierende Störgröße empfundene Verhalten schreit folgerichtig danach, von mir kritisiert zu werden, um meinen Flow wiederherzustellen. Eine gewisse Zeit lang kann ich mich unter Aufbietung anderer Facetten meiner Über-Ich-Kapazitäten dabei durchaus beherrschen, denn auch das Ausrasten als Reaktion auf solche „Affronts” steht natürlich schon lange selbst auf der inneren Verbotsliste für potenzielle Unterminierungen der eigenen Sozialkompatibilität. Aber irgendwann wird Quantität dann auch zu einer eigenen Qualität und ich fühle mich genötigt, die als solche empfundene Störquelle aktiv zu beseitigen. Alternativ schlucke ich den entstandenen Groll gewaltsam herunter und mache einen weiteren Strich an die Liste der weggesteckten Kränkungen.
Ja, Kränkungen. Denn es hat für mich durchaus eine herabwürdigende Konnotation, wenn ich mich an einer Stelle gefangen fühle, an der manch ein Mitmensch sich ungehemmt seine Freiheiten herausnimmt. Das schafft für mich so etwas wie ein gefühltes Souveränitätsgefälle. Wenn dann auch noch das oben beschriebene selbstauferlegte Verbot hinzukommt, auf diese als solche empfundenen Herabwürdigungen zu reagieren, gesellt sich zudem noch ein gewisses Gefühl der Wehrlosigkeit hinzu. Alles zusammen ist — Bingo: kränkend. Und das wiederum hat erhebliche Auswirkungen auf meine Toleranzschwelle für „Verstöße” anderer gegen mein selbstauferlegtes Wertesystem.
Projektion
Jetzt sind wir eigentlich schon ganz nahe an dem, was das Fass im Oktober 2015 gewissermaßen zum Überlaufen gebracht hat. Wann und warum ich mir eines Tages offenbar selbst auferlegt habe, der traditionell locker gelebten Geselligkeit in der Westendsynagoge zugunsten des Anspruchs auf eine fortwährend bestehende andächtige Stille abzuschwören, weiß ich nicht mehr genau. Ich kann mich nur erinnern, in meinen jungen Gabbai-Jahren einmal von einem Gebetsteilnehmer in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam gemacht worden zu sein, dass es nach seiner Auffassung zu den vornehmsten Pflichten eines Gabbais gehöre, für andächtige Ruhe im G*ttesdienst zu sorgen. Gabbai-Greenhorn, wie ich es damals nun einmal war, habe ich das dann auch gleich unhinterfragt für bare Münze genommen. Und es liegt auf der Hand, dass Über-Ich-lastige Menschen wie ich sich sowas nicht gerne zweimal sagen lassen. Ich und mangelnde Pflichterfüllung? Das geht ja wohl gar nicht!
Seitdem habe ich es also offenbar als eine Art Berufung empfunden, mich in dieser Hinsicht besonders dienstbeflissen zu zeigen und vor allem mit gutem Beispiel voranzugehen. Da mögen auch noch andere Aspekte meiner Persönlichkeitsstruktur eine Rolle gespielt haben, aber wie schon oben erwähnt: das soll hier wirklich kein „too much information”-Fall werden. Stille und Andächtigkeit während des G*ttesdienstes in der Westendsynagoge vorzuleben, wurde jedenfalls, warum auch immer, zu einer weiteren Verhaltensregel, die ich meinem ganz eigenen Mechanismus zur Sozialkompatibilitätswahrung hinzuzufügen hatte. Jetzt war ich Wahrer und Vorreiter einer neuen Strenge und jeder, der dieses Selbstbild durch die vermutlich völlig arglose Fortführung des gewohnten, lässigeren Verhaltens in Frage stellen würde, sollte seither zur Störquelle im Sinne des oben beschriebenen Reaktionsmusters werden.
Ich will damit nicht sagen, dass die Unruhe in der Westendsynagoge bisweilen nicht ganz objektiv in die Nähe der Erträglichkeitsgrenze oder sogar darüber hinaus gerät. Der in den 1960er Jahren berühmt gewordene Satz einer unbekannten Autorin, dessen Urheberschaft später fälschlicherweise Woody Allen, Kurt Cobin und anderen zugeschrieben wurde, bringt es in diesem Zusammenhang auf den Punkt:
„Just because you’re paranoid doesn’t mean they aren’t out to get you” („nur weil du paranoid bist, bedeutet das nicht, dass sie nicht versuchen, dich zu kriegen”)
Tatsächlich sind sich eigentlich alle in der Westendsynagoge darüber einig, dass die Unruhe, die dort gerade zu den Hohen Feiertagen immer wieder entsteht, eindeutig zuviel des Guten ist. So gesehen kann man also durchaus davon sprechen, dass es sich hier grundsätzlich schon um ein objektives Problem handelt.
Die Umstand aber, dass ich die Personen, von denen diese Unruhe ausgeht, zur Projektionsfläche für den Kampf gegen Verletzungen meines selbstauferlegten Stillegebots mache, so dass sie in diesem Sinne zu Feindbildern für mich werden, ist davon vollkommen unabhängig. Mein eigener Umgang mit meinen selbstauferlegten Einschränkungen ist zunächst einmal einzig und alleine mein Problem und es geziemt sich daher nicht, meine Mitmenschen dafür zu verurteilen, dass sie gegen meine selbstauferlegte Strenge verstoßen. Objektive Verstöße gegen die allgemeinen Regeln des rücksichtsvollen Miteinanders sind hingegen in der Tat die Probleme derjenigen, die diese Verstöße begehen. Und genau dieser wichtige Unterschied ist es, der mir in dieser Deutlichkeit erst lange nach meiner seinerzeitigen Amtsniederlegung klar geworden ist.
Selbstkritik
Ich sollte an dieser Stelle vielleicht sagen, dass mein Don-Quijote-artiger Kampf gegen die Störquellen-Windmühlen sicher nicht das alleinige Motiv für die seinerzeitige Niederlegung meines Amtes gewesen ist. Aber der Groll und die entsprechend heftigen Anfeindungen gegen meine Mitmenschen, die aus der Vermischung meiner ganz eigenen Verhaltensmaßstäbe mit den objektiven Regeln des rücksichtsvollen Miteinanders entstanden sind, waren letztlich dafür verantwortlich, dass ich jene Kluft zwischen mir und dem Rest der Westendsynagogenwelt irgendwann als unüberbrückbar empfunden habe. Ich kam mir unverstanden, nutzlos und insoweit überflüssig vor, und der damit einhergehende Groll hat mich immer mehr dazu gedrängt, endlich mal ein klares, spektakuläres Zeichen zu setzen. Der Rest ist Geschichte in Form meiner damaligen Amtsniederlegung samt des zugehörigen Blogbeitrags.
Wenn ich mir nun mit all diesen Einsichten gewappnet heute so durchlese, was ich aus dieser Haltung heraus damals geschrieben habe, muss ich anerkennen, dass ich meine g*ttesdienstlichen Mitstreiter in der Tat mit so mancher Formulierung wahrlich ungerecht behandelt habe. Sie können schlicht nichts dafür, dass meine Persönlichkeits-Hardware es mir oft so schwer macht, mit bestimmten Verhaltensweisen meiner Umwelt gelassen umzugehen. Ihnen daher mangelnde spirituelle Tiefe oder überhaupt irgendwelche Motive für den G*ttesdienstbesuch zu unterstellen, die auf einer wie auch immer gearteten niedrigeren Wertstufe angesiedelt sein sollten, ist daher — anders kann ich es aus heutiger Sicht nicht sagen — einfach nur anmaßend. Genau genommen steht es mir ebenso wenig wie jedem anderen zu, die vermuteten Motive meiner Mitmenschen für ihre Teilnahme am G*ttesdienst einem Werturteil zu unterziehen. Was ich damit meine, sei an folgendem Beispiel aus meinem damaligen Blogbeitrag illustriert:
„Der überwiegende Teil der allwöchentlichen G*ttesdienstteilnehmer [sucht] vor allem so etwas wie soziale Begegnungen, Geselligkeit und Gratisverköstigung mit einem bisschen ‚Jiddischkeit’ als unaufdringlicher Hintergrundmusik. Das gilt freilich umso mehr für das Publikum, das sich zu den Hohen Feiertagen oder an Simchat-Torah bzw. Purim einfindet.”
Klingt oberflächlich einfach nur wie eine sachkundige Feststellung. Und lange Zeit habe ich es auch für nichts anderes als eine solche gehalten, so dass ich diesen Satz gegen die wenige Kritik, die mir dazu explizit angetragen wurde, entsprechend in Schutz genommen habe. Der gravierende Fehler im System liegt hier aber aus heutiger Sicht darin, dass ich meine subjektiven — oder sagen wir eher: selbstauferlegten — Maßstäbe für „richtiges” Verhalten und die „richtigen” Motive zur objektiven Wahrheit hochstilisiert und mir zudem angemaßt habe, eine auf diesen Maßstäben beruhende öffentliche Bewertung der Motive anderer Gebetsteilnehmer vorzunehmen. Das war zugegebenermaßen ein echter Griff ins Klo. Weniger ordinär muss man es wohl auch nicht sagen…
Spätestens zum Ausgang von Yom-Kippur im Jahre 2017 habe ich gemäß meinem damals dazu verfassten Blogbeitrag endlich erkannt, dass auch diejenigen, die sich fast den gesamten Feiertag lang scheinbar vollkommen vom G*ttesdienstgeschehen abkoppeln und sich stattdessen intensiven (und vermutlich nicht selten profanen) Gesprächen mit ihren Nachbarn widmen, am Ende ihre ganz eigenen und sicher nicht minder intensiven spirituellen Momente in der Synagoge erleben, die genau der Grund dafür sind, dass sie nächstes Mal wiederkommen und sich letztlich nicht minder tief mit der Synagoge, der Gemeinschaft und dem Judentum verwurzelt fühlen als ich selbst. Punkt.
Nochmal: das soll nicht heißen, dass ich jetzt plötzlich jedwedes Verhalten in der Synagoge automatisch als tolerabel proklamieren will. Jeder von uns wird am Ende für sich selbst zu beurteilen haben, welches Verhalten akzeptabel ist und wo er sich bisweilen auch mal genötigt sieht, seine G*ttesdienstmitstreiter auf effektive Grenzüberschreitungen aufmerksam zu machen. Daraus jedoch Schlüsse über die Ernsthaftigkeit des Glaubens und die Tiefe der Gemeinschaftsverbundenheit anderer Gebetsteilnehmer zu ziehen und diese Schlüsse auch noch wertend in alle Öffentlichkeit zu tragen, ist — das muss ich jetzt vorbehaltslos anerkennen — dadurch noch lange nicht gerechtfertigt.
Die Piano-Bar-Metapher, die mir in den Jahren danach immer mal wieder als abschätzig vorgehalten wurde, ist ein anderes Beispiel. Eigentlich war sie ja wirklich nur als kreative Metapher gedacht, die in aller Deutlichkeit versinnbildlichen sollte, inwieweit sich mein eigener Anspruch von demjenigen unterscheidet, den ich den sonstigen Synagogenbesuchern unterstellt habe. Aber ganz so nüchtern und akademisch, wie ich die Metapher verstanden wissen wollte, funktioniert es halt am Ende nicht, denn das Wort „Piano-Bar” ist nun einmal mit einer gewissen Bedeutung assoziiert, deren Suggestionskraft man beim Schreiben eines solchen Beitrags nicht außer Acht lassen kann. Und — die Psychologen unter Euch werden es sicher schon gedacht haben — so wirklich zufällig wird mir gerade diese Metapher dann ja auch nicht in den Sinn gekommen sein. Ich hätte ja auch genauso gut von einer vorfahrtsgeregelten versus einer ungeregelten Straßenkreuzung oder so schreiben können. Habe ich aber nicht. Aus heutiger Sicht: leider nicht.
Anfeindungen
Auch wenn ich mir durchaus attestieren muss, dass ich damals eigentlich jedwede direkte persönliche Anfeindung vermeiden wollte, ist mein Beitrag nicht frei von Andeutungen konkreter Personen, die für den geübten G*ttesdienstteilnehmer möglicherweise aufgrund meiner Wortwahl identifizierbar sind. Man könnte jetzt einwenden, dass sich diese Personen das dann eben aufgrund des offensichtlichen Wiedererkennungswerts ihres dementsprechend auffälligen Verhaltens letztlich selbst zuzuschreiben haben. Es muss ja auch gar nicht ausgeschlossen sein, dass die betreffenden Personen ganz unabhängig von meiner individuellen Wahrnehmung durchaus Anlass hätten, sich selbstkritisch mit ihrem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen. Allein: das ist nicht meine Sache, und nicht ohne Grund schreibt der Babylonische Talmud in Baba Metzia 59a, dass es die angenehmere Wahl sei, sich in einen glühenden Brennofen werfen zu lassen, als andere Menschen bloßzustellen, nur um das zu vermeiden:
„נוח לו לאדם שיפיל עצמו לכבשן האש ואל ילבין פני חבירו ברבים”
Meine eigene als solche empfundene Kränkung durch den (sicher eher heimlichen) Versuch zu kompensieren, die Mitmenschen, von denen die Kränkung (vermeintlich) ausging, ebenfalls zu kränken — das ist ein Verhalten, auf dessen Unterdrückung ich meinen oben dargelegten Mechanismus zur Wahrung meiner Sozialkompatibilität besser hätte programmieren sollen. Und eigentlich war ich bislang auch der Meinung, dass mir das fast immer vorbildlich gelungen sei. So kann man sich täuschen.
Die jahrelange Unwilligkeit, mir gerade dieses schwer verzeihliche Versäumnis einzugestehen, hat bis heute dazu geführt, dass ich mich stattdessen lieber weiter trefflich über die gefühlten Unzulänglichkeiten der von mir indirekt angeprangerten Mitmenschen echauffiert habe, um meiner Kritik nachträglich doch noch die nötige Rechtfertigung zu verleihen. Und dennoch: es nagt bis heute an mir, dass ich mich zu so einer Äußerung habe hinreißen lassen. Ich verstehe jetzt zwar den inneren Mechanismus, der das hervorgebracht hat, aber zu richtigem Verhalten wird es dadurch natürlich längst noch nicht.
Entschuldigung
Tja — es geht, wie gesagt, auf Yom-Kippur zu und jetzt, wo das Eis zu schmelzen beginnt, das eine Schneekönigin namens „Lebensgeschichte” um mein Herz gelegt hat, ist die Zeit gekommen, auf Basis der oben dargelegten Selbsterkenntnisse über seinen Schatten zu springen und diejenigen aufrichtig um Entschuldigung zu bitten, denen ich damals, in meinem vermutlich weitgehend selbstgeschaffenen Groll, offensichtliches Unrecht getan habe:
Ich bitte Euch alle daher hiermit wirklich in aller Aufrichtigkeit dafür um Entschuldigung, dass ich mir seinerzeit angemaßt habe, Eure Motive für den G*ttesdienstbesuch überhaupt einer veröffentlichten Bewertung zu unterziehen und das zudem auch noch auf abwertende Weise getan habe. Das stand und steht mir nicht zu, und es tut mir in diesem Moment sehr leid, dass mein damaliger Groll mir den Blick für die damit einhergehende Verletzung Eurer Würde verstellt hat.
Ich bitte jedwede Person, die von einem Leser meines damaligen Beitrags möglicherweise konkret als „einer der renitentesten Störer” identifiziert worden sein könnte, ebenso aufrichtig um Entschuldigung für die damit einhergehende Bloßstellung, die nicht nur den fundamentalen Prinzipien des jüdischen Glaubens, sondern vor allem meiner ganz persönlichen Ethik diametral entgegensteht. Das war falsch von mir und es tut mir sehr, sehr leid, dass ich damit möglicherweise Kränkungen hervorgerufen habe, deren Wirkung ich selbst nur allzu gut nachvollziehen kann. Sollte das Schreiben dieses Teils meines damaligen Beitrags mir tatsächlich jemals so etwas wie Genugtuung für selbst empfundene Kränkungen verliehen haben, so ist sie jedenfalls sehr schnell verflogen und längst der Scham gewichen, meine eigenen Maßstäbe so eklatant verletzt zu haben. Ich möchte die betreffenden Personen aufrichtig bitten, mir das zu vergeben und hoffe sehr, dass ich nie wieder derart zu Lasten meiner Mitmenschen in meine eigene Falle tappe.
Zu guter Letzt: die Westendsynagoge ist selbstverständlich keine Piano-Bar. Das habe ich ganz ehrlich nie so sagen wollen, aber ich gebe zu, dass meine Metapher — naja — zumindest mal ungeschickt gewählt war, und auch das tut mir in diesem Moment sehr leid. Die Westendsynagoge ist und bleibt selbstverständlich meine synagogale Heimat und ein Ort, der mir für immer am Herzen liegen wird.
Möge es uns allen stets gegeben sein, die Würde unserer Mitmenschen aus vollem Herzen so wahren zu können, wie wir unsere eigene Würde gewahrt wissen wollen, und möge uns allen ein „Gmar Chatimah tovah” — eine zum Guten endende Besiegelung unserer moralischen Bilanz des vergangenen hebräischen Kalenderjahrs beschert sein!
Alles Liebe
Daniel
WOW! Dieser Beitrag ist keine leichte Kost! Auch wenn ich in diesem Rahmen nicht im einzelnen auf die aufgeworfenen Themen und (wunden) Punkte eingehen möchte, so sei doch gesagt, dass ich noch auf keinen ehrlicheren und zeitgemässeren Vidui gestossen bin. Jeder von uns hat doch unser ganz eigenes Ashamnu, Bagadnu,… und nur wenige sind in der Lage sich selbst Ihre Schwächen und Verfehlungen einzugestehen, geschweige denn, zu öffentlich zu proklamieren. Allein dafür gebührt Dir mein höchster Respekt! Möge dieser Jom Kippur uns ermöglichen, anderen und uns selbst Vergebung zu gewähren und mögen wir alle im neuen Jahr mehr Einsicht, Verständnis und Toleranz gegenüber unseren Mitmenschen und uns selbst aufbringen.
Lieber Daniel! Dein selbstkritischer Beitrag ist mutig und berührt mich sehr.
Gmar Chatima Tova!!!
Vielen Dank, dass ich Anteil haben darf.
Respekt Daniel! Wenn nicht von dir hätten die Worte, wenn auch nicht ganz so gut artikuliert, auch von mir stammen können. Es Bedarf sehr viel innere Größe mit sich selbst so in die Kritik gehen zu können und dies vor Allem öffentlich zu tun. Wie gesagt: mir geht es oft ähnlich und auch ich erwische mich häufig in ähnlichen Gedankenstrukturen, Handlungen und resultierenden, vermeidbaren Konfliktsituationen. Mit diesem Blog-Beitrag sprichst du mir zu 100% aus der Seele. Als Dankeschön lese ich mir zum neuen Jahr erneut die gesamte Mandelbrotserie durch 😉 Ganz ohne einen Speier-Esquen Spruch hätte ich meinen ersten Beitrag auf deinem Blog ja doch nicht abschließen können. Anyways: Shana- und gmar chatima tova!