Hallo Ihr Lieben,
es ist tatsächlich unglaubliche zwei Jahre her, dass ich das letzte Mal geblogt habe. Diejenigen unter Euch, die mit meinen Lebensumständen seit Ende 2015 einigermaßen vertraut sind, werden wissen, was mich seit dieser Zeit so sehr vereinnahmt hat, dass ich leider nicht mehr dazu gekommen bin, mich meinem Blog zu widmen. Allerdings haben sich diese Lebensumstände zwischenzeitlich wieder weitestgehend ausgewachsen und mein Alltag folgt wieder halbwegs geordneten Bahnen. Das erlaubt mir, den Faden meiner Bloggerei endlich wieder aufzunehmen, was aus aktuellem Anlass mit diesem Beitrag geschehen soll.
Gestern Abend ist nämlich Yom Kippur, der höchste Jüdische Jahresfeiertag, zu Ende gegangen und ich möchte gerne einige für mich sehr bedeutsame Eindrücke mit Euch teilen, die ich dabei gewonnen habe. Denjenigen unter Euch, die mit den Jüdischen Feiertagen weniger vertraut sind, sei dabei zunächst gesagt, dass Yom Kippur (auf Deutsch gerne auch als „Versöhnungstag” bezeichnet) derjenige Tag ist, an dem nach Jüdischer Überlieferung das bereits zehn Tage zuvor am Jüdischen Neujahrstag („Rosh Hashanah”) gefällte himmlische Urteil über unser Schicksal im kommenden hebräischen Kalenderjahr endgültig besiegelt wird. Es ist also ein Tag der Einkehr, des Eingeständnisses eigenen Fehlverhaltens, der Bitte um himmlische Vergebung aber auch der Bitte um irdische Vergebung gegenüber Menschen, denen man Unrecht getan hat. Vor allem aber ist Yom Kippur ein Tag der Umkehr in Form des Vorsatzes, seine moralische Bilanz für das kommende hebräische Kalenderjahr zu verbessern.
Die Liturgie dieses Tages (den man wohl besser als „Vergebungstag” bezeichnen sollte) ist bestimmt von einem gut 25 Stunden andauernden vollständigen Verzicht auf Nahrungsaufnahme jedweder Art und überhaupt auf alle Handlungen, die sich auf Erhalt und Pflege unserer materiellen Existenz beziehen – also insbesondere Körperpflege, Sexualität, Kosmetik und Kleiderkult. Sinn dieser Vorgaben ist es, die materielle Seite der eigenen Existenz als primäre Quelle unserer sündenträchtigen Triebhaftigkeit für diesen einen Tag so gut es geht zu negieren und sich G*tt soweit es geht zu nähern, indem man sich – nahezu engelsgleich – auf den spirituellen Teil seiner Existenz fokussiert.
Begleitet wird dieser Tag von einer Folge extensiver G*ttesdienstaktivitäten, beginnend mit dem gut zwei- bis dreistündigen ersten Abend, der nach dem ihn prägenden einleitenden Gebet „Kol Nidrej” benannt ist. Am Morgen geht es dann mit einer rund sechsstündigen Mammutveranstaltung weiter, bevor sich der Ausklang des Tages kurz vor Sonnenuntergang mit einem wiederum rund zweieinhalb Stunden währenden Abendg*ttesdienst anschließt.
Was Yom Kippur so einzigartig macht, ist aus meiner Sicht der Umstand, dass er in der einen oder anderen Form von so gut wie allen Juden in allen Denominationen des Judentums beachtet wird. Es ist dieser eine Tag im Jahr, an dem sich selbst der säkularisierteste Jude plötzlich auf sondersame Weise angesprochen fühlt und an dem es ihn entsprechend unaufhaltsam in den Synagogeng*ttesdienst zieht. Erfreut sich also die Synagoge unterjährig in der Regel überwiegend gähnender Leere, erlebt man schon auf dem Fußweg zum Kol-Nidrej‑G*ttesdienst, wie aus allen Ecken um die Synagoge herum Menschen herbeiströmen, deren Jüdische Seele sich in ihrem tiefsten Inneren geregt zu haben scheint und sie daran erinnert hat, dass es da noch etwas anderes gibt, als unser allzu säkularer, von materiellen Bedürfnissen geprägter Alltag.
Und wenn dann die ersten Töne der uralten, melancholischen Melodie des „Kol Nidrej” erklingen, spürt man, wie diese allumfassenden Schwingungen der uns verbindenden Tradition plötzlich etwas in uns wachrufen, das uns als Gemeinschaft untereinander aber auch mit der gesamten Geschichte unseres Volkes und den himmlischen Sphären verbindet, auf die sich unser gemeinsamer Glaube richtet.
Jaja, das klingt jetzt wirklich pathetisch und wird in der Tat auch ganz schnell wieder dadurch relativiert, dass es selbst während der paar Minuten, die der Vortrag des Kol Nidrej in Anspruch nimmt, immer wieder nicht zu wenige Unverbesserliche gibt, die sich trotzdem lieber dem geselligen Gespräch miteinander widmen und dieser ergreifenden Welle verbindender Spiritualität damit gleich wieder vieles von ihrem kraftvollen Potenzial rauben. Diese Haltung zieht sich dann leider auch wie ein roter Faden durch den Morgeng*ttesdienst am nächsten Tag, bei dem der Lärmpegel bisweilen deutlich mehr an einen Israelischen Wochenmarkt als an eine liturgische Veranstaltung erinnert. Zwar drängt die Jüdische Seele also einerseits auf erstaunliche Weise Viele in die Synagoge, die sie ansonsten nicht einmal mit ihrem Hintern anschauen würden, scheint sich dann aber andererseits wieder ziemlich regungslos zu verhalten, wenn jene Ausnahmebesucher erst einmal in der Synagoge angekommen sind.
Es hat also nicht allzu lange gedauert, bis in mir wieder diese unselige Mischung aus Unverständnis und Groll zu brodeln begonnen hat, von der ich all die vielen Jahre, in der ich als Gabbai (= als Mitglied des Synagogenvorstands) tätig war, stets begleitet und schließlich geprägt worden bin, was mich letztlich ja auch dazu bewegt hat, dieses Amt nach bald zwölf Jahren niederzulegen. Wieso nur, fragte ich mich mal wieder, versteht hier keiner, was an diesem Tag eigentlich Programm ist?
Wer einmal gesehen hat, wie sich streng orthodoxe Juden seit uralten Zeiten und bis in die Gegenwart hinein an diesem Tage regelrecht in Extase wiegen und weinen, während sie sich in die klagenden, demutsfördernden Gebete vertiefen und sich dabei ihrem Schöpfer immer weiter nähern, ja geradezu nach ihm greifen können – und zwar als Individuum wie gleichermaßen als Kollektiv – dem muss es einfach körperliche Schmerzen bereiten mitzuerleben, wie der überwiegende Teil der Anwesenden in unserer Synagoge sich gedankenlos in allzu lautstarke profane Gespräche vertieft, Eltern einen Scheiß feuchten Kehricht darauf geben, wenn ihre Kinder krakeelend und trampelnd in der Synagoge Fangen spielen und weit über die Hälfte der Anwesenden geradezu panikartig das Weite sucht, kaum dass die letzten Töne des Jiskor-Gebets (das Gebet zum Gedenken an die Verstorbenen) verklungen sind – ganz so, als hätten sie Angst, sich mit dem Synagogenvirus zu infizieren, wenn sie auch nur eine Minute länger blieben.
War’s das also wieder mal für mich? Die Westendsynagoge wieder mal als Quelle der wütenden Entrüstung und bitteren Enttäuschung auf der verzweifelten Suche nach gemeinschaftlich gelebter, verbindender und zu G*tteserfahrungen führender Spiritualität?
Könnte man meinen – und doch: es kam ganz anders.
Es geschah ziemlich plötzlich, und zwar kurz vor Ende des Ne’ilah-Gebets, mit dem Yom Kippur im Sonnenuntergang seinen Abschluss findet. „Ne’ilah” (נעילה) bedeutet wörtlich „Schließung” und bezieht sich auf die überlieferte Metapher, dass sich mit dem Ausklang von Yom Kippur die himmlischen Pforten für unsere Fürbitten um ein positives Urteil unweigerlich zu schließen beginnen. So hat sich etwa im Jiddischen das Idiom „es gayt tsi nile” („Es geht auf Ne’ilah zu”) geprägt, das mit dem Deutschen „Es ist fünf vor zwölf” vergleichbar ist. Jedenfalls kulminiert im Ne’ilah-Gebet normalerweise unser ganzes Streben nach der erlösenden Besiegelung unseres erhofften Eintrags in das Buch des Lebens. In unserem gestrigen Falle wurde Ne’ilah denn auch mit ansteckender Leidenschaft und geballter Emotionalität von unserem geehrten Rabbiner Avichai Apel vorgetragen – also gerade so, wie es im günstigsten Fall sein sollte.
Einen nicht unwesentlichen Teil der Zeit dieses gut eine Stunde währenden Gebets verbrachte ich neben dem Vortragspult (der „Bimah” – wörtlich „Bühne”) in der Mitte der Synagoge stehend und habe mich dort, wie so oft, innerlich darüber echauffiert, dass wieder mal so mancher Ignorant diesen bewegenden Moment der um sich greifenden Spiritualität mit geradezu respektloser Gleichgültigkeit profanen Gesprächen zu widmen schien – also mal wieder der absolute Showstopper für jedwedes gemeinschaftlich geteilte Streben nach spiritueller Erhöhung. Meine mehrfachen Versuche, jene achtlosen Störer durch lautes Schlagen auf das Geländer des Vortragspults zu disziplinieren, verpufften meist wirkungslos im Nichts.
Aber dann passierte es: es waren die allerletzten Minuten von Ne’ilah und damit des gesamten Yom Kippur, als Rabbiner Apel die letzte Phrase des „Avinu Malkeinu”-Gebets anstimmte. Bei diesem Gebet, das täglich von Rosh Hashanah bis Yom Kipur gesagt wird, handelt es sich um eine regelrechte Bestellliste an Zuwendungen aller Art, die wir uns von G*tt erbeten. Erst in den allerletzten Strophen – und dabei vor allem in besagtem letzten Satz – rücken wir G*tt gegenüber mit der beklemmenden Wahrheit heraus, dass wir all jenes erbeten, ohne uns auch nur irgendwie darum verdient gemacht zu haben:
Unser Vater, unser König, erweise uns Gnade und erhöre uns, denn wir haben keine verdienstvollen Handlungen. Erweise uns Milde und Güte und erlöse uns!
Plötzlich, urplötzlich, wie aus eben jenem Nichts, in dem kurz zuvor noch meine verärgerten Maßregelungsversuche verpufft waren, ergriff es sie alle – jene Störer, die bis zu diesem Moment das gesamte Geschehen um sie herum bestenfalls als erträgliche Hintergrundmusik zu empfinden schienen, ebenso wie jeden anderen in der gesamten Synagoge: ausnahmslos alle stimmten ein in diese wundersam bewegende traditionelle Melodie eines unbekannten Komponisten, die zunächst mehrfach vorsichtig im Dominantakkord die letzten vier Töne der harmonischen Molltonleiter hinauf- und wieder hinunterklettert und die Subdominante dabei geschickt durch den Gegenklang umschifft, um erst sehr spät die erlösende Tonika und endlich auch die Subdominante als ultimativen Höhepunkt zu erreichen, bevor sie – als offenes Ende – in der Dominante verklingt.
Es war, als hätte sich die Jüdische Seele jedes Einzelnen just in diesem Moment, kurz vor Toresschluss, endlich ihren lang ersehnten Weg aus der Gefangenschaft unseres säkularisierten, materialistischen Alltags gebahnt, um sich mit den Seelen der gesamten versammelten Gemeinschaft zu einem Ganzen zu verbinden, das unbeschreiblich viel größer wurde, als die bloße Summe der Anwesenden. Ich sah mich um und erblickte lauter Gesichter, in denen sich die Innigkeit dieser eruptiv entstandenen Spiritualität unverkennbar widerspiegelte. Die Menschen wiegten sich oft mit den typisch geschlossenen Augen einer tiefen Einkehr in den Schwingungen des gemeinschaftlichen Gesangs, der sie alle wie die Wogen eines aufgewühlten Meeres zu tragen und in Bewegung zu setzen schien.
Als die letzten Töne des Avinu Malkeinu in dem legendären Nachhall unserer Synagoge verklungen waren, hörte man für wenige Sekunden – nichts. Ja, Ihr lest alle ganz richtig: in unserer Synagoge hörte man tatsächlich – NICHTS. Es war die totale Ergriffenheit aller Anwesenden, die zum ersten Mal an diesem gesamten gut 24 Stunden währenden Yom Kippur die absolute Stille in unserer Synagoge hervorgebracht hatte. Alle schienen intuitiv verstanden zu haben, dass es wirklich sie selbst sind, die in Erkenntnis ihrer eigenen alltäglichen Ferne von Glaube und Spiritualität aus der letzten Strophe des Avinu Malkeinu sprechen „wir haben keine verdienstvollen Handlungen”. Und sie baten aus dieser instinktiven Erkenntnis heraus mit bis zu diesem Moment ungekannter gemeinschaftlicher Leidenschaft um jene Gnade, Milde, Güte und Erlösung, die mit der letzten Strophe herbeigefleht werden sollen.
Und es kam noch besser: der letzte Teil der Ne’ilah-Liturgie besteht aus dem einmaligen Ausrufen des ersten Satzes unseres Jüdischen Glaubensbekenntnisses, dem „Shma Yisrael” („Höre Israel”), gefolgt vom dreimaligen Ausrufen dessen zweiten Satzes und schließlich dem siebenmaligen Ausrufen der Phrase „HaShem Hu haElokim!” – „Der Ewige, nur er ist G*tt”. Alle, wie sie dastanden, waren noch so ergriffen von diesem erlösenden Moment dieses plötzlichen Durchbruchs der so lange verpassten Gelegenheit, Spiritualität als allumfassende, die Gemeinschaft verbindende und G*ttlichkeit hervorbringende Ausdrucksform der Jüdischen Seele zu erleben, dass sie diese schlichten Ausrufe nach all der komplexen Liturgie der vergangenen Stunden urplötzlich in einer Innigkeit und mit einer ergreifenden gemeinschaftlichen Leidenschaft vollzogen, die nach meiner Erinnerung zumindest in den letzten Jahren ihresgleichen sucht.
Und als ob das alles nicht schon bewegend genug gewesen wäre, fand es seinen ultimativen Höhepunkt schließlich in einer Tradition, die zumindest in der Frankfurter Westendsynagoge seit mindestens fünfzig Jahren ungebrochen gepflegt wird: wir beenden Yom Kippur immer mit der Nationalhymne des Staates Israel, der „Hatikvah” („Die Hoffnung”). Die Melodie der Hatikva ist demselben böhmischen Volkslied entlehnt wie das Hauptthema aus Smetanas Moldau und ist, bezogen auf ihr erstes Thema, bei Lichte betrachtet eigentlich kaum mehr als die vermollte Version von „Alle meine Entchen”. Umso erstaunlicher also, welche Emotionalität diese schlichte Melodie hervorzubringen in der Lage ist. Der Text dazu stammt aus dem von Naftali Herz Imber im späten neunzehnten Jahrhundert verfassten Gedicht „Tikvateinu” („Unsere Hoffnung”), dessen erste Strophe in leicht abgewandelter Form in die Nationalhymne eingeflossen ist:
Solange sich im Inneren des Herzens eine Jüdische Seele sehnt,
und vorwärts zu den Gefilden des Ostens ein Auge nach Zion blickt,
solange ist unsere Hoffnung nicht verloren: unsere zweitausend Jahre alte Hoffnung, ein freies Volk in unserem Land zu sein, im Lande Zions, und Jerusalems
Keine Lyrik hätte besser beschreiben können, was sich da von meinen Augen abgespielt hat: ich sah und erlebte, wie sich ausnahmslos bei allen Anwesenden im Inneren des Herzens die jüdische Seele sehnte und ihrer Sehnsucht endlich gemeinschaftlicher, spiritueller Ausdruck verliehen wurde. Und ich sah und erlebte, wie wir alle nach Osten blickten (Synagogen sind im Abendland immer ostwärts, also auf Jerusalem zeigend, ausgerichtet). Und während der Kloß im Hals meine ansonsten weithin vernehmbare Stimme zu ersticken drohte verstand ich: unsere Hoffnung ist nicht verloren. Ich spürte wie diese Innigkeit, mit der wir alle die Hatikvah sangen, etwas freisetzte, das ausgerechnet in diesen Sekunden, in denen sich die himmlischen Pforten für unsere Fürbitten schlossen, nicht einmal G*tt selbst unbewegt lassen konnte. Diese aufrichtige, authentische und ungehemmt aufwallende Offenbarung der jahrtausendealten Sehnsucht unserer in diesem Moment vereinten Jüdischen Seelen – ich wusste einfach, dass sie ihr Ziel nicht verfehlt hatte und wir uns alle die Besiegelung im Buch des Lebens in diesem allerletzten Augenblick verdient hatten.
Und genau das ist Yom Kippur.
Alles Liebe
Daniel
„Wunder gibt es immer wieder” fällt mir spontan zu Deinem Beitrag ein. Das Bedauerliche dabei: Die menschliche Ungeduld, die nach sofortigen Wundern verlangt. Denn meistens brauchen Wunder etwas länger. Und den meisten Menschen (auch jenen, die für Sprituelles grundsätzlich empfänglich sind) wird die Zeit dafür oft zu lang. Manches Wunder braucht sogar Jahrzehnte (Jahrhunderte, Jahrtausende?). Für dieses hier brauchte es nur 24 Stunden. Ein bewegender, lehrreicher Bericht. Vielen Dank, lieber Daniel.
1. In נוסח אשכנז wird die letzte Strophe von אבינו מלכנו leise gesagt, aus Scham. So war es gewiss auch in Frankfurt vor dem Krieg. Macht auch Sinn, wenn man sich den Text mal anschaut.
2. Ich sehe einen gewissen kausalen Zusammenhang zwischen dem Besingen von עם חופשי und dem unverfrorenen Lärmpegel in einem G‑tteshaus am heiligsten Tag des jüdischen Jahres. Dass die klare Referenz auf אליהו חנבי auf dem הר הכרמל und der dortigen jüdischen Selbstverpflichtung auf den Dienst an השם am Ende von נעילה überschattet wird vom Bejubeln einer Freiheit, die in Geist und Tat יום כיפור diametral entgegensteht, ist Ausdruck der falschen Priorisierung, die diese Rücksichtslosigkeit erst ermöglicht. (Eine gelehrte Auseinandersetzung mit den diversen Freiheitsbegriffen in לשון הקודש gibt es z. B. hier .) Würde man doch wenigstens להיות עם קודשי בארצנו singen.
3. Betrüblich, dass man sich darüber freuen muss, wenn für wenige Minuten dass eintritt, was anderswo mit grosser Selbstverständlichkeit nicht nur den ganzen Tag, sondern das ganze Jahr andauert.
4. Von welcher Beständigkeit die neugefundene Inspiration ist, wird man bereits am unmittelbar bevorstehenden סוכות beobachten können.
Hi mein Lieber,
vielen Dank für die ausführliche Kommentierung. Dass man in der aschkenasischen Tradition die letzte Strophe von Avinu Malkeinu leise gesagt hat, ist mir bekannt. Allerdings war das bei uns noch nie so und ich selbst kenne auch keine Synagoge, in der das heute noch so gehandhabt würde. Ich finde zudem, dass der innige, von jener bewegenden Melodie geprägte Vortrag, wie wir ihn heute praktizieren, vieles für sich hat: es geht hier um das ehrliche und unverblümte Bekenntnis unserer moralischen Unzulänglichkeit. Würde man dies unter vorgehaltener Hand vortragen, verlöre es an Aufrichtigkeit.
Die Hoffnung darauf, „ein freies Volk” zu sein, wie sie in Imbers „Tikvateinu” zum Ausdruck gelangt, ist sicher ein Kind ihres zeitlichen Kontexts. Wo die Franzosen „Egalité, Liberté und Fraternité” und die Deutschen „Einigkeit und Recht und Freiheit” rufen, wo die immer hässlichere Fratze des neuen, völkisch geprägten Antisemitismus allgegenwärtig zur Bedrohung wird, wo Theodor Herzl seinen legendären Satz „wenn ihr wollt, ist es kein Märchen” in die Welt gesetzt hat, da ist das Streben nach „Freiheit” schlichtweg Ausdruck des Zeitgeists. Zudem ist insbesondere die Geburt der Jüdischen Nation im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten ja ganz ausdrücklich eine Geschichte der Befreiung, durch die unsere Identität entscheidend bestimmt wird. Ich glaube also nicht, dass die Hatikvah auf die Freiheit abstellt, sich primär über die Regeln unseres Glaubens hinwegzusetzen. Nach fast zwei Jahrtausenden der Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung ist es wohl das Streben nach Selbstbestimmung, um das es den Zionisten des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gegangen ist. Warum das dem von Dir geforderten Bestreben entgegenstehen soll, ein heiliges Volk zu werden, erschließt sich mir nicht so recht.
Ja, es wäre zweifellos schöner, wenn der gesamte Verlauf des Yom Kippur eine einzige spirituelle Offenbarung für alle böte. Aber unsere Gemeinde ist, wie sie ist und das hat vielschichtige Gründe. Dass wir es trotzdem geschafft haben, in letzter Sekunde diesen Moment innigster Verbindung mit dem G*ttlichen zu erreichen, zeigt indessen, dass uns etwas verbindet, das weit über die bloße Frage der Observanz hinausgeht. Das ist es, was ich verstanden habe, als wir alle „od lo avda tikvateinu” – noch ist unsere Hoffnung nicht verloren – gesungen haben.
An Sukkot, dem Laubhüttenfest, wird sich wie jedes Jahr jene handverlesene Gruppe zusammenfinden, durch die unsere Synagogen im Moment gerade noch so am Leben gehalten werden. Das ist nicht erfreulich. Zumindest wird es aber sehr ruhig zugehen. Hat ja auch was.
1. Siehe z. B. hier. Mein Punkt war, dass der Verlauf ein anderer gewesen wäre, würden noch die Vorkriegs-Bräuche gehalten werden. (Vermutlich wäre es in dem Falle allerdings auch zuvor nicht so laut gewesen.…)
2. Trotz seines bekanntlich unreligiösen, völlig assimilierten Lebenswandels sollte Herzl hier keine anti-religiöse Motivation unterstellt werden. Für Imber sieht das möglicherweise schon anders aus. Dass viele der aktiven Protagonisten hinter der Staatsgründung eine neue, Torah- und g‑ttlose Identität anstrebten, ist hinlänglich dokumentiert. Mir scheint, diese Denkschule ist in Frankfurt heute besser verwurzelt als eine, die einem respektvolleren Verhalten in der Synagoge dienlicher wäre.
Dein Hinweis auf die Befreiung an Pessach unterstreicht den Punkt im oben von mir verlinkten Artikel. Mit guten Grund fangen wir unmittelbar nach Pessach an, Omer zu zählen bis zur Offenbarung der Torah am Sinai: Eben um einem Denken, dass die Befreiung aus Ägypten in Isolation sieht, und nicht in notwendiger Verbindung mit der Verpflichtung auf den „neuen Dienstherrn”, vorzubeugen.
„Heiliges Volk zu werden” ist ja nun nicht meine Forderung…
3. Ich möchte ja nicht allzu zynisch wirken, aber nur weil gemeinsames Singen Endorphine etal produziert, macht es das meines Erachtens noch nicht zu einer offenkundig spirituellen Handlung. Dieser Effekt wird ja (bedauerlicherweise) auch in äußerst unheiligen Zusammenhängen ausgenutzt.
4. Dass Sukkot mit seiner tiefspirituellen Botschaft auf Jom Kippur folgt, ist gewiss kein kalendarischer Zufall. Daher scheint mir die Einhaltung von Sukkot ein zuverlässigerer Indikator für den Grad der erreichten Innigkeit zu sein.
1. Ja, klar. Aber ich glaube, es war für die gebene Konstellation der Anwesenden sicher die wirkungsvollere Variante.
2. Trotzdem war die zionistische Bewegung in allererster Linie eine politische Bewegung. Nicht umsonst lehnen die ultraorthodoxen Strömungen im Judentum den modernen Staat Israel ab – teils in Form grotesker Solidaritätsbekundungen gegenüber den erklärten Feinden Israels. Stattdessen warten sie lieber auf die Ankunft des משיח (Messias), damit er den Tempel wiederaufbauen und das Königreich Israel wiedererstehen lassen möge.
Was Pessach angeht, ist es halt nun einmal so, dass wir die zugehörige Feiertagssaison nicht ohne Grund als „זמן חרותנו” (Zeit unserer Befreiung) bezeichnen. Neben den „Hohen Feiertagen” und Chanukka ist Pessach eindeutig der populärste Jüdische Feiertag und allemal das populärste der drei Wallfahrtsfeste. Da geht es für alle ganz ausdrücklich und ziemlich exklusiv um das erlebbare Motiv der Befreiung. Und das Flüchtlingsschiff „Exodus” aus den vierzieger Jahren, dessen Geschichte in Leon Uris’ gleichnamigem Roman verarbeitet worden ist, trägt nicht umsonst einen Namen, der den Bezug auf den Auszug aus Ägypten herstellt. Der Weg zum modernen Staat Israel ist eine Geschichte der Freiheitssuche – also des Strebens nach freier Selbstbestimmung. Die Freiheit von unseren Traditionen und Religionsvorschriften ist damit sicher nicht primär gemeint.
3. Ja, das Judentum hat keine Exklusivrechte auf die emotionale Wirkung gemeinsamer Gesänge. Aber die liturgische Musik, wie wir sie aus den aschkenasischen G*ttesdiensten (insbesondere osteuropäischer Prägung) kennen, harmoniert meines Erachtens deutlich besser mit den Resonanzfrequenzen der Jüdischen Seele, als preussische Marschmusik oder ländliche Stammtischlieder
4. Ich glaube, Du übersiehst ganz einfach, dass wir es hier mit einer Gemeinde zu tun haben, in der die meisten Mitglieder kaum je eine realistische Chance erhalten haben, eine fundierte religiöse Ausbildung ohne erhebliche (und einfach nicht jedem abzuverlangende) Eigeninitiative zu absolvieren. Wir müssen also auch an all diejenigen denken, die man eben nur für einen kurzen Moment im Jahr spirituell erreichen kann, um die tief verwurzelten Ursprünge ihrer eigenen Identität vorübergehend aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Diese Menschen in Ermangelung eines bestimmten Grades an Observanz als Glaubensgenossen zu disqualifizieren und infolgedessen als Teil unserer Identitätsgemienschaft abzuschreiben, halte ich nicht für einen aussichtsreichen Weg, um unsere Gemeinschaft stärker zusammenzufügen. Aus meiner Sicht geht es vielmehr darum, diesen Menschen in den wenigen Momenten, in denen sie für verwurzelungsstärkende Anregungen empfänglich sind, den richtigen Impuls zu geben. Mehr kann man jedenfalls in einem ersten Schritt wohl kaum erwarten.
Lieber Daniel,
vielen Dank, dass ich durch diese eindrucksvolle Schilderung an Deinem spirituellen Erleben teilhaben durfte – das ist schön.
Lieber Daniel,
ich liebe die Feiertage in unserer Synagoge, ich liebe die Gesänge, die Vertrautheit und ja, ich wünschte mir, es wäre manchmal leiser und vor allem spiritueller. Ich spüre die Verbundenheit unseres Menschen, unserer Gemeinde, unseres Volkes immer wieder. Und es erfüllt mich mit Glück.
Umso mehr, als dass es in Momenten passiert, wie du sie beschrieben hast, lieber Daniel. Es war wunderbar und ganz besonders. Und weisst du was? Es freut mich so sehr, dass DU(!) so empfunden hast. Und mit einem guten Gefühl ins neue Jahr gehst – ein Jahr, das nicht voller Kritik, Strenge und negativen Gefühlen beginnt. Ist das nicht schon eine schöner Einstieg?
Die Spiritualität gab es im übrigen auch während Rosh Hashanah – immer dann, wenn unser fantastischer Zudek in Ruhe vorbeten konnte. Es ist so ergreifend und tiefgehend. Ich fühle es – und viele andere auch… mal mit mehr, mal mit weniger Gerede, Kindergeschrei und sonstigem. Aber lebendig ist es & I love it.
Ich mag unsere Gemeinde, unser Art von Judentum – orthodox und doch nicht zu streng, Halt gebend und doch frei, warm und manchmal anstrengend.
Und unser Gabber – soll er sijn gesinnt – soll immer wieder vorne stehen. Und für Ruhe sorgen:)
Ganz liebe Grüße
Cathy
Danke für die Schilderung. Ein Ansporn, vielleicht doch etwas zum »Erleben« von Jom Kippur zu schreiben, wenngleich das kein kurzer spiritueller Höhenflug wie in Frankfurt war. In den kleinen Gemeinden sieht es ja noch immer anders aus. Hier strömen die Massen nicht in die Synagoge, man ist froh, wenn es überhaupt Minjan gibt. Stabil war der kurz für Minchah und Jiskor und kratzte danach wieder an der Grenze – weshalb ich mittlerweile einen ungesunden und unguten Groll gegen Jiskor entwickelt habe. Weil es mittlerweile einen höheren Stellenwert erreicht hat, als all die anderen Gebete des Tages – jedenfalls dort, wo ich war oder häufig bin.
Zur Hatikwah: Die »Grundmelodie« stammt eigentlich vom Balkan (und die Melodie basiert ihrerseits wohl auf einem italienischen
Lied aus dem 16. Jahrhundert) und ist Bestandteil vieler lokaler Volkslieder. Ich kenne »Ruse kose«, aber hör Dir mal Üsküdara, ein »traditionelles« türkisches Lied an – es ist anzunehmen, dass es die Türken vom Balkan mitgenommen haben. Auch Schmuel Cohen, der Komponist der eingängigen, Melodie hat sich da wohl von einem rumänischen oder moldawischen Volkslied inspirieren lassen. In beiden Bereichen gab es Adaptionen der Melodie. Eigentlich eine großartige europäische Geschichte.
Es seien alle eingefleischten „אבינו מלכנו ” Fans daran erinnert, dass man seit dem 7. Oktober jeden Morgen und jeden Abend bei שחרית und מנחה in den Genuss dieser תפילה kommen kann, inklusive gesungener letzter Strophe.