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Mein Yom Kippur

Hal­lo Ihr Lieben,

es ist tat­säch­lich unglaub­li­che zwei Jah­re her, dass ich das letz­te Mal geblogt habe. Die­je­ni­gen unter Euch, die  mit mei­nen Lebens­um­stän­den seit Ende 2015 eini­ger­ma­ßen ver­traut sind, wer­den wis­sen, was mich seit die­ser Zeit so sehr ver­ein­nahmt hat, dass ich lei­der nicht mehr dazu gekom­men bin, mich mei­nem Blog zu wid­men. Aller­dings haben sich die­se Lebens­um­stän­de zwi­schen­zeit­lich wie­der wei­test­ge­hend aus­ge­wach­sen und mein All­tag folgt wie­der halb­wegs geord­ne­ten Bah­nen.  Das erlaubt mir, den Faden mei­ner Blog­ge­rei end­lich wie­der auf­zu­neh­men, was aus aktu­el­lem Anlass mit die­sem Bei­trag gesche­hen soll.

Ges­tern Abend ist näm­lich Yom Kip­pur, der höchs­te Jüdi­sche Jah­res­fei­er­tag, zu Ende gegan­gen und ich möch­te ger­ne eini­ge für mich sehr bedeut­sa­me Ein­drü­cke mit Euch tei­len, die ich dabei gewon­nen habe. Den­je­ni­gen unter Euch, die mit den Jüdi­schen Fei­er­ta­gen weni­ger ver­traut sind, sei dabei zunächst gesagt, dass Yom Kip­pur (auf Deutsch ger­ne auch als „Ver­söh­nungs­tag” bezeich­net) der­je­ni­ge Tag ist, an dem nach Jüdi­scher Über­lie­fe­rung das bereits zehn Tage zuvor am Jüdi­schen Neu­jahrs­tag („Rosh Hash­a­nah”) gefäll­te himm­li­sche Urteil über unser Schick­sal im kom­men­den hebräi­schen Kalen­der­jahr end­gül­tig besie­gelt wird. Es ist also ein Tag der Ein­kehr, des Ein­ge­ständ­nis­ses eige­nen Fehl­ver­hal­tens, der Bit­te um himm­li­sche Ver­ge­bung aber auch der Bit­te um irdi­sche Ver­ge­bung gegen­über Men­schen, denen man Unrecht getan hat. Vor allem aber ist Yom Kip­pur ein Tag der Umkehr in Form des Vor­sat­zes, sei­ne mora­li­sche Bilanz für das kom­men­de hebräi­sche Kalen­der­jahr zu verbessern.

Die Lit­ur­gie die­ses Tages (den man wohl bes­ser als „Ver­ge­bungs­tag” bezeich­nen soll­te) ist bestimmt von einem gut 25 Stun­den andau­ern­den voll­stän­di­gen Ver­zicht auf Nah­rungs­auf­nah­me jed­we­der Art und über­haupt auf alle Hand­lun­gen, die sich auf Erhalt und Pfle­ge unse­rer mate­ri­el­len Exis­tenz bezie­hen – also ins­be­son­de­re Kör­per­pfle­ge, Sexua­li­tät, Kos­me­tik und Klei­der­kult. Sinn die­ser Vor­ga­ben ist es, die mate­ri­el­le Sei­te der eige­nen Exis­tenz als pri­mä­re Quel­le unse­rer sün­den­träch­ti­gen Trieb­haf­tig­keit für die­sen einen Tag so gut es geht zu negie­ren und sich G*tt soweit es geht zu nähern, indem man sich – nahe­zu engels­gleich – auf den spi­ri­tu­el­len Teil sei­ner Exis­tenz fokussiert.

Beglei­tet wird die­ser Tag von einer Fol­ge exten­si­ver G*ttesdienstaktivitäten, begin­nend mit dem gut zwei- bis drei­stün­di­gen ers­ten Abend, der nach dem ihn prä­gen­den ein­lei­ten­den Gebet „Kol Nidrej” benannt ist. Am Mor­gen geht es dann mit einer rund sechs­stün­di­gen Mam­mut­ver­an­stal­tung wei­ter, bevor sich der Aus­klang des Tages kurz vor Son­nen­un­ter­gang mit einem wie­der­um rund zwei­ein­halb Stun­den wäh­ren­den Abendg*ttesdienst anschließt.

Was Yom Kip­pur so ein­zig­ar­tig macht, ist aus mei­ner Sicht der Umstand, dass er in der einen oder ande­ren Form von so gut wie allen Juden in allen Deno­mi­na­tio­nen des Juden­tums beach­tet wird. Es ist die­ser eine Tag im Jahr, an dem sich selbst der säku­la­ri­sier­tes­te Jude plötz­lich auf son­der­sa­me Wei­se ange­spro­chen fühlt und an dem es ihn ent­spre­chend unauf­halt­sam in den Synagogeng*ttesdienst zieht. Erfreut sich also die Syn­ago­ge unter­jäh­rig in der Regel über­wie­gend gäh­nen­der Lee­re, erlebt man schon auf dem Fuß­weg zum Kol-Nidrej‑G*ttesdienst, wie aus allen Ecken um die Syn­ago­ge her­um Men­schen her­bei­strö­men, deren Jüdi­sche See­le sich in ihrem tiefs­ten Inne­ren geregt zu haben scheint und sie dar­an erin­nert hat, dass es da noch etwas ande­res gibt, als unser all­zu säku­la­rer, von mate­ri­el­len Bedürf­nis­sen gepräg­ter Alltag.

Und wenn dann die ers­ten Töne der uralten, melan­cho­li­schen Melo­die des „Kol Nidrej” erklin­gen, spürt man, wie die­se all­um­fas­sen­den Schwin­gun­gen der uns ver­bin­den­den Tra­di­ti­on plötz­lich etwas in uns wach­ru­fen, das uns als Gemein­schaft unter­ein­an­der aber auch mit der gesam­ten Geschich­te unse­res Vol­kes und den himm­li­schen Sphä­ren ver­bin­det, auf die sich unser gemein­sa­mer Glau­be richtet.

Jaja, das klingt jetzt wirk­lich pathe­tisch und wird in der Tat auch ganz schnell wie­der dadurch rela­ti­viert, dass es selbst wäh­rend der paar Minu­ten, die der Vor­trag des Kol Nidrej in Anspruch nimmt, immer wie­der nicht zu weni­ge Unver­bes­ser­li­che gibt, die sich trotz­dem lie­ber dem gesel­li­gen Gespräch mit­ein­an­der wid­men und die­ser ergrei­fen­den Wel­le ver­bin­den­der Spi­ri­tua­li­tät damit gleich wie­der vie­les von ihrem kraft­vol­len Poten­zi­al rau­ben. Die­se Hal­tung zieht sich dann lei­der auch wie ein roter Faden durch den Morgeng*ttesdienst am nächs­ten Tag, bei dem der Lärm­pe­gel bis­wei­len deut­lich mehr an einen Israe­li­schen Wochen­markt als an eine lit­ur­gi­sche Ver­an­stal­tung erin­nert. Zwar drängt die Jüdi­sche See­le also einer­seits auf erstaun­li­che Wei­se Vie­le in die Syn­ago­ge, die sie ansons­ten nicht ein­mal mit ihrem Hin­tern anschau­en wür­den, scheint sich dann aber ande­rer­seits wie­der ziem­lich regungs­los zu ver­hal­ten, wenn jene Aus­nah­me­be­su­cher erst ein­mal in der Syn­ago­ge ange­kom­men sind.

Es hat also nicht all­zu lan­ge gedau­ert, bis in mir wie­der die­se unse­li­ge Mischung aus Unver­ständ­nis und Groll zu bro­deln begon­nen hat, von der ich all die vie­len Jah­re, in der ich als Gab­bai (= als Mit­glied des Syn­ago­gen­vor­stands) tätig war, stets beglei­tet und schließ­lich geprägt wor­den bin, was mich letzt­lich ja auch dazu bewegt hat, die­ses Amt nach bald zwölf Jah­ren nie­der­zu­le­gen. Wie­so nur, frag­te ich mich mal wie­der, ver­steht hier kei­ner, was an die­sem Tag eigent­lich Pro­gramm ist?

Wer ein­mal gese­hen hat, wie sich streng ortho­do­xe Juden seit uralten Zei­ten und bis in die Gegen­wart hin­ein an die­sem Tage regel­recht in Exta­se wie­gen und wei­nen, wäh­rend sie sich in die kla­gen­den, demuts­för­dern­den Gebe­te ver­tie­fen und sich dabei ihrem Schöp­fer immer wei­ter nähern, ja gera­de­zu nach ihm grei­fen kön­nen – und zwar als Indi­vi­du­um wie glei­cher­ma­ßen als Kol­lek­tiv – dem muss es ein­fach kör­per­li­che Schmer­zen berei­ten mit­zu­er­le­ben, wie der über­wie­gen­de Teil der Anwe­sen­den in unse­rer Syn­ago­ge sich gedan­ken­los in all­zu laut­star­ke pro­fa­ne Gesprä­che ver­tieft, Eltern einen Scheiß feuch­ten Keh­richt dar­auf geben, wenn ihre Kin­der kra­kee­lend und tram­pelnd in der Syn­ago­ge Fan­gen spie­len und weit über die Hälf­te der Anwe­sen­den gera­de­zu panik­ar­tig das Wei­te sucht, kaum dass die letz­ten Töne des Jis­kor-Gebets (das Gebet zum Geden­ken an die Ver­stor­be­nen) ver­klun­gen sind – ganz so, als hät­ten sie Angst, sich mit dem Syn­ago­gen­vi­rus zu infi­zie­ren, wenn sie auch nur eine Minu­te län­ger blieben.

War’s das also wie­der mal für mich? Die West­end­syn­ago­ge wie­der mal als Quel­le der wüten­den Ent­rüs­tung und bit­te­ren Ent­täu­schung auf der ver­zwei­fel­ten Suche nach gemein­schaft­lich geleb­ter, ver­bin­den­der und zu G*tteserfahrungen füh­ren­der Spiritualität?

Könn­te man mei­nen – und doch: es kam ganz anders.

Es geschah ziem­lich plötz­lich, und zwar kurz vor Ende des Ne’i­lah-Gebets, mit dem Yom Kip­pur im Son­nen­un­ter­gang sei­nen Abschluss fin­det. „Ne’i­lah” (נעילה) bedeu­tet wört­lich „Schlie­ßung” und bezieht sich auf die über­lie­fer­te Meta­pher, dass sich mit dem Aus­klang von Yom Kip­pur die himm­li­schen Pfor­ten für unse­re Für­bit­ten um ein posi­ti­ves Urteil unwei­ger­lich zu schlie­ßen begin­nen. So hat sich etwa im Jid­di­schen das Idi­om „es gayt tsi nile” („Es geht auf Ne’i­lah zu”) geprägt, das mit dem Deut­schen „Es ist fünf vor zwölf” ver­gleich­bar ist. Jeden­falls kul­mi­niert im Ne’i­lah-Gebet nor­ma­ler­wei­se unser gan­zes Stre­ben nach der erlö­sen­den Besie­ge­lung unse­res erhoff­ten Ein­trags in das Buch des Lebens. In unse­rem gest­ri­gen Fal­le wur­de Ne’i­lah denn auch mit anste­cken­der Lei­den­schaft und geball­ter Emo­tio­na­li­tät von unse­rem geehr­ten Rab­bi­ner Avichai Apel vor­ge­tra­gen – also gera­de so, wie es im güns­tigs­ten Fall sein sollte.

Einen nicht unwe­sent­li­chen Teil der Zeit die­ses gut eine Stun­de wäh­ren­den Gebets ver­brach­te ich neben dem Vor­trags­pult (der „Bimah” – wört­lich „Büh­ne”) in der Mit­te der Syn­ago­ge ste­hend und habe mich dort, wie so oft, inner­lich dar­über echauf­fiert, dass wie­der mal so man­cher Igno­rant die­sen bewe­gen­den Moment der um sich grei­fen­den Spi­ri­tua­li­tät mit gera­de­zu respekt­lo­ser Gleich­gül­tig­keit pro­fa­nen Gesprä­chen zu wid­men schien – also mal wie­der der abso­lu­te Show­stop­per für jed­we­des gemein­schaft­lich geteil­te Stre­ben nach spi­ri­tu­el­ler Erhö­hung. Mei­ne mehr­fa­chen Ver­su­che, jene acht­lo­sen Stö­rer durch lau­tes Schla­gen auf das Gelän­der des Vor­trags­pults zu dis­zi­pli­nie­ren, ver­puff­ten meist wir­kungs­los im Nichts.

Aber dann pas­sier­te es: es waren die aller­letz­ten Minu­ten von Ne’i­lah und damit des gesam­ten Yom Kip­pur, als Rab­bi­ner Apel die letz­te Phra­se des „Avinu Malk­einu”-Gebets anstimm­te. Bei die­sem Gebet, das täg­lich von Rosh Hash­a­nah bis Yom Kipur gesagt wird, han­delt es sich um eine regel­rech­te Bestell­lis­te an Zuwen­dun­gen aller Art, die wir uns von G*tt erbe­ten. Erst in den aller­letz­ten Stro­phen – und dabei vor allem in besag­tem letz­ten Satz – rücken wir G*tt gegen­über mit der beklem­men­den Wahr­heit her­aus, dass wir all jenes erbe­ten, ohne uns auch nur irgend­wie dar­um ver­dient gemacht zu haben:

Unser Vater, unser König, erwei­se uns Gna­de und erhö­re uns, denn wir haben kei­ne ver­dienst­vol­len Hand­lun­gen. Erwei­se uns Mil­de und Güte und erlö­se uns!

Plötz­lich, urplötz­lich, wie aus eben jenem Nichts, in dem kurz zuvor noch mei­ne ver­är­ger­ten Maß­re­ge­lungs­ver­su­che ver­pufft waren, ergriff es sie alle – jene Stö­rer, die bis zu die­sem Moment das gesam­te Gesche­hen um sie her­um bes­ten­falls als erträg­li­che Hin­ter­grund­mu­sik zu emp­fin­den schie­nen, eben­so wie jeden ande­ren in der gesam­ten Syn­ago­ge: aus­nahms­los alle stimm­ten ein in die­se wun­der­sam bewe­gen­de tra­di­tio­nel­le Melo­die eines unbe­kann­ten Kom­po­nis­ten, die zunächst mehr­fach vor­sich­tig im Domin­an­tak­kord die letz­ten vier Töne der har­mo­ni­schen Moll­ton­lei­ter hin­auf- und wie­der hin­un­ter­klet­tert und die Sub­do­mi­nan­te dabei geschickt durch den Gegen­klang umschifft, um erst sehr spät die erlö­sen­de Toni­ka und end­lich auch die Sub­do­mi­nan­te als ulti­ma­ti­ven Höhe­punkt zu errei­chen, bevor sie – als offe­nes Ende – in der Domi­nan­te verklingt.

Es war, als hät­te sich die Jüdi­sche See­le jedes Ein­zel­nen just in die­sem Moment, kurz vor Tores­schluss, end­lich ihren lang ersehn­ten Weg aus der Gefan­gen­schaft unse­res säku­la­ri­sier­ten, mate­ria­lis­ti­schen All­tags gebahnt, um sich mit den See­len der gesam­ten ver­sam­mel­ten Gemein­schaft zu einem Gan­zen zu ver­bin­den, das unbe­schreib­lich viel grö­ßer wur­de, als die blo­ße Sum­me der Anwe­sen­den. Ich sah mich um und erblick­te lau­ter Gesich­ter, in denen sich die Innig­keit die­ser erup­tiv ent­stan­de­nen Spi­ri­tua­li­tät unver­kenn­bar wider­spie­gel­te. Die Men­schen wieg­ten sich oft mit den typisch geschlos­se­nen Augen einer tie­fen Ein­kehr in den Schwin­gun­gen des gemein­schaft­li­chen Gesangs, der sie alle wie die Wogen eines auf­ge­wühl­ten Mee­res zu tra­gen und in Bewe­gung zu set­zen schien.

Als die letz­ten Töne des Avinu Malk­einu in dem legen­dä­ren Nach­hall unse­rer Syn­ago­ge ver­klun­gen waren, hör­te man für weni­ge Sekun­den – nichts. Ja, Ihr lest alle ganz rich­tig: in unse­rer Syn­ago­ge hör­te man tat­säch­lich – NICHTS. Es war die tota­le Ergrif­fen­heit aller Anwe­sen­den, die zum ers­ten Mal an die­sem gesam­ten gut 24 Stun­den wäh­ren­den Yom Kip­pur die abso­lu­te Stil­le in unse­rer Syn­ago­ge her­vor­ge­bracht hat­te. Alle schie­nen intui­tiv ver­stan­den zu haben, dass es wirk­lich sie selbst sind, die in Erkennt­nis ihrer eige­nen all­täg­li­chen Fer­ne von Glau­be und Spi­ri­tua­li­tät aus der letz­ten Stro­phe des Avinu Malk­einu spre­chen „wir haben kei­ne ver­dienst­vol­len Hand­lun­gen”. Und sie baten aus die­ser instink­ti­ven Erkennt­nis her­aus mit bis zu die­sem Moment unge­kann­ter gemein­schaft­li­cher Lei­den­schaft um jene Gna­de, Mil­de, Güte und Erlö­sung, die mit der letz­ten Stro­phe her­bei­ge­fleht wer­den sollen.

Und es kam noch bes­ser: der letz­te Teil der Ne’i­lah-Lit­ur­gie besteht aus dem ein­ma­li­gen Aus­ru­fen des ers­ten Sat­zes unse­res Jüdi­schen Glau­bens­be­kennt­nis­ses, dem „Shma Yis­ra­el” („Höre Isra­el”), gefolgt vom drei­ma­li­gen Aus­ru­fen des­sen zwei­ten Sat­zes und schließ­lich dem sie­ben­ma­li­gen Aus­ru­fen der Phra­se „HaSh­em Hu haE­lo­kim!” – „Der Ewi­ge, nur er ist G*tt”. Alle, wie sie dastan­den, waren noch so ergrif­fen von die­sem erlö­sen­den Moment die­ses plötz­li­chen Durch­bruchs der so lan­ge ver­pass­ten Gele­gen­heit, Spi­ri­tua­li­tät als all­um­fas­sen­de, die Gemein­schaft ver­bin­den­de und G*ttlichkeit her­vor­brin­gen­de Aus­drucks­form der Jüdi­schen See­le zu erle­ben, dass sie die­se schlich­ten Aus­ru­fe nach all der kom­ple­xen Lit­ur­gie der ver­gan­ge­nen Stun­den urplötz­lich in einer Innig­keit und mit einer ergrei­fen­den gemein­schaft­li­chen Lei­den­schaft voll­zo­gen, die nach mei­ner Erin­ne­rung zumin­dest in den letz­ten Jah­ren ihres­glei­chen sucht.

Und als ob das alles nicht schon bewe­gend genug gewe­sen wäre, fand es sei­nen ulti­ma­ti­ven Höhe­punkt schließ­lich in einer Tra­di­ti­on, die zumin­dest in der Frank­fur­ter West­end­syn­ago­ge seit min­des­tens fünf­zig Jah­ren unge­bro­chen gepflegt wird: wir been­den Yom Kip­pur immer mit der Natio­nal­hym­ne des Staa­tes Isra­el, der „Hatik­vah” („Die Hoff­nung”). Die Melo­die der Hatik­va ist dem­sel­ben böh­mi­schen Volks­lied ent­lehnt wie das Haupt­the­ma aus Sme­ta­nas Mol­dau und ist, bezo­gen auf ihr ers­tes The­ma, bei Lich­te betrach­tet eigent­lich kaum mehr als die ver­moll­te Ver­si­on von „Alle mei­ne Ent­chen”. Umso erstaun­li­cher also, wel­che Emo­tio­na­li­tät die­se schlich­te Melo­die her­vor­zu­brin­gen in der Lage ist. Der Text dazu stammt aus dem von Naf­ta­li Herz Imber im spä­ten neun­zehn­ten Jahr­hun­dert ver­fass­ten Gedicht „Tik­vat­einu” („Unse­re Hoff­nung”), des­sen ers­te Stro­phe in leicht abge­wan­del­ter Form in die Natio­nal­hym­ne ein­ge­flos­sen ist:

Solan­ge sich im Inne­ren des Her­zens eine Jüdi­sche See­le sehnt,
und vor­wärts zu den Gefil­den des Ostens ein Auge nach Zion blickt,
solan­ge ist unse­re Hoff­nung nicht ver­lo­ren: unse­re zwei­tau­send Jah­re alte Hoff­nung, ein frei­es Volk in unse­rem Land zu sein, im Lan­de Zions, und Jerusalems

Kei­ne Lyrik hät­te bes­ser beschrei­ben kön­nen, was sich da von mei­nen Augen abge­spielt hat: ich sah und erleb­te, wie sich aus­nahms­los bei allen Anwe­sen­den im Inne­ren des Her­zens die jüdi­sche See­le sehn­te und ihrer Sehn­sucht end­lich gemein­schaft­li­cher, spi­ri­tu­el­ler Aus­druck ver­lie­hen wur­de. Und ich sah und erleb­te, wie wir alle nach Osten blick­ten (Syn­ago­gen sind im Abend­land immer ost­wärts, also auf Jeru­sa­lem zei­gend, aus­ge­rich­tet). Und wäh­rend der Kloß im Hals mei­ne ansons­ten weit­hin ver­nehm­ba­re Stim­me zu ersti­cken droh­te ver­stand ich: unse­re Hoff­nung ist nicht ver­lo­ren. Ich spür­te wie die­se Innig­keit, mit der wir alle die Hatik­vah san­gen, etwas frei­setz­te, das aus­ge­rech­net in die­sen Sekun­den, in denen sich die himm­li­schen Pfor­ten für unse­re Für­bit­ten schlos­sen, nicht ein­mal G*tt selbst unbe­wegt las­sen konn­te. Die­se auf­rich­ti­ge, authen­ti­sche und unge­hemmt auf­wal­len­de Offen­ba­rung der jahr­tau­sen­de­al­ten Sehn­sucht unse­rer in die­sem Moment ver­ein­ten Jüdi­schen See­len – ich wuss­te ein­fach, dass sie ihr Ziel nicht ver­fehlt hat­te und wir uns alle die Besie­ge­lung im Buch des Lebens in die­sem aller­letz­ten Augen­blick ver­dient hatten.

Und genau das ist Yom Kippur.

Alles Lie­be

Dani­el

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