Hallo Ihr Lieben,
hier bin ich wieder mit der Fortsetzung der kleinen Beitragsserie über meine Selbsterfahrung bei der Schaffung von Musik. Im letzten Beitrag hatte ich ja von meinem 1988 entfachten Verliebtheitsrausch berichtet, der mich 1989 dazu trieb, der bezaubernden jungen Dame meines Herzens ein Klavierstück zu komponieren. Ich habe dabei in aller epischen Breite versucht, Euch zu illustrieren, wie ich an dieses Vorhaben herangegangen bin, was dabei herausgekommen ist — und vor allem, was ich dabei erlebt habe.
Auch heute noch bleibt es für mich faszinierend, wie meine Musik als Kombination aus systematischem Design, langjährig aufgebauter musikalischer Intuition und vor allem assoziativem Denken entstanden ist. Oft genügte es, die bereits geschaffenen Fragmente ein paar Mal anzuspielen — und schon kam mir irgendein Motiv aus einem mir bekannten Musikstück in den Sinn, das sich als Basis zur Fortsetzung dieses Fragments eignete. Wirklich erstaunlich, wie ich finde. Und ich bleibe zudem bei meiner Bemerkung aus dem ersten Teil, dass sich darin sicher auch einige sehr charakteristische Spezifika meiner Persönlichkeitsstruktur widerspiegeln. Schöpferische Tätigkeit dieser Art ist für mich also immer auch gleichzeitig eine Form der intensiven Selbsterfahrung und damit schon als solche sehr lehrriech.
Nun gut — genug der Reflexionen. Ich wollte ja eigentlich meine Geschichte weitererzählen…
Im Fluss des Lebens
Meine „Sonata quasi una Fantasia” existierte nun also und ich spielte sie immer mal wieder vor mich hin — nicht selten sogar auf ausdrücklichen Wunsch meiner wundervollen Lebensgefährtin mit der ich seit 1991 zusammenlebte. Ab und an begann ich dabei, im Anschluss an das Stück ein paar Fragmente eines möglichen zweiten Satzes zu improvisieren, die dann auch immer konkretere Gestalt annahmen. Denn zumindest bei Mozart hat eine Klaviersonate traditionell immer drei Sätze: einen schnellen ersten, einen langsamen zweiten und wieder einen schnellen dritten Satz. Insofern hatte ich sogar auch schon ein paar rudimentäre Vorstellungen davon im Kopf, wie ein möglicher dritter und letzter Satz aussehen müsste.
Aber: die Jahre kamen und gingen. Aus Studium wurde Berufsleben, aus frischer, überschwänglicher Verliebtheit wurde gemeinsames Leben in Form von Ehe und Familie, für Klavierspielen war vermeintlich immer weniger Zeit und es gab so viele andere Dinge, die mich allenthalben vereinnahmten. Im Ergebnis spielte ich mein Stück also immer seltener, die Kassette mit der Tonaufnahme ist vermutlich einem der Wohnungsumzüge dieser vielen Jahre zum Opfer gefallen und ich konnte mich irgendwann auch nicht mehr daran erinnern, in welcher verdammten Kiste ich wohl das Notenmanuskript eingelagert hatte. Eigentlich konnte mich mich irgendwann überhaupt kaum noch an alle Details meines Stücks erinnern, obwohl ich immer annahm, dass einem so ein Werk mit all den vielen Gedanken, die man sich bei seiner Schaffung gemacht hat, auf ewig im Gedächtnis erhalten bleiben würde. Immerhin hatte ich wenigstens noch die wesentlichen Teile im Kopf und trug zudem in all den Jahren das Gefühl in mir herum, dass da noch ein bislang weitgehend unausgeschöpftes Potenzial zur Schaffung weiterer Musik in mir schlummerte.
Und dann kam das Jahr 2019 — genau genommen dessen Herbst. Noch ahnte keiner etwas von einer globalen Pandemie, die unseren Planeten nur wenige Monate später für die nächsten Jahre heimsuchen würde oder davon, dass wir gut zweieinhalb Jahre später den ersten militärischen Angriff auf einen souveränen europäischen Staat nach dem Zweiten Weltkrieg erleben würden. Inzwischen war das Internet in Form von Smartphones schon längst in jedermanns Hosentasche angekommen, die USA wurden von einem vollkommen egomanen Immobilienkaufmann, Deutschland hingegen von einer sichtbar alternden Übermutti regiert. Europa war intensiv mit der Abwicklung des Brexit beschäftigt, während uns die fortschreitende Klimaveränderung gerade den heißesten jemals aufgezeichneten Juni beschert hatte. Eigentlich also ein nicht allzu spektakuläres Jahr — schon gar nicht im Vergleich zu dem, was in den darauffolgenden Jahren noch alles kommen sollte.
Irgendwann im frühen November hatte sich meine wundervolle Frau dazu entschieden, ihren für Januar 2020 anstehenden runden Geburtstag in großem Stil zu feiern — also so richtig in einer gediegenen Location mit vielen Gästen, Musik, Tanzen und eben allem, was dazu gehört. Ziemlich schnell wurde mir dabei klar, dass so eine Feier natürlich nach irgendeinem aktiven Beitrag meinerseits verlangt, mit dem ich nicht nur meine entzückende Frau selbst anlässlich ihres Ehrentages zu würdigen hatte, sondern auch und gerade den Umstand, dass wir all die Jahre glücklich miteinander verbringen durften.
Und dann kam mir plötzlich eine ebenso charmante wie irrwitzige Idee: was wäre, wenn ich während der Feier mein seinerzeitiges Musikstück — das ja als Klangdarstellung meiner überschwänglichen Verliebtheit aus der Anfangszeit unserer Beziehung gedacht war — in irgendeiner geeigneten Form als Hommage an unsere Beziehung zum Besten gäbe? Außer meiner Frau selbst und bestenfalls einer Handvoll weiterer Personen hatte es noch nie jemand gehört, und warum sollte dieses tongewordene Zeugnis meiner stürmisch-drängenden Leidenschaft für diese bezaubernde Frau nicht anlässlich einer solchen Feier nach gut dreißig Jahren zu neuer Blüte reifen und in entsprechend neuem, vielleicht irgendwie weiterentwickeltem Glanz erstrahlen?
Vervierfacht
Dieser Gedanke ließ mich seither nicht mehr los. Aber was könnte ich daraus machen? Selbst darbieten? Bloß nicht! Ich hatte das Klavierspiel in der Zwischenzeit auf ein absolutes Minimum reduziert, und es würde mich ohnehin viel zu nervös machen, vor Publikum etwas vorspielen zu sollen. Jemand anderen vorspielen lassen? Auch irgendwie blöd. Es war meine musikalische Liebeserklärung an meine bezaubernde Frau. Wie sähe das aus, wenn ein anderer sie für mich vortragen würde? Das kam also auch nicht in Frage.
Doch dann schoss es mir wie ein Blitz in den Sinn: nicht ein anderer, sondern vier andere! Wenn ich aus meinem Werk ein Stück machen würde, das von einem Ensemble zu spielen ist, dann wäre wiederum klar, dass ich es nicht selbst spielen kann und insofern auch nicht muss. Die Idee war geboren: mein Stück musste in ein Streichquartett umgearbeitet werden!
Tolle Idee. Wirklich! Doch so wie dreißig Jahre zuvor, als ich mir in den Kopf gesetzt hatte, meine Verliebtheit in ein Klavierstück zu fassen, erhob sich auch diesmal zunächst die drängende Frage: wie macht man das? Wie schreibt man ein Klavierstück in ein Streichquartett um? Es ist ja nicht so, dass ich in mich der Zwischenzeit als Arrangeur — geschweige denn als Komponist — zu verdingen gelernt hätte. Nach gut dreißig Jahren also gerade wieder „back to square one”.
Aller Anfang ist schwer
Immerhin hatte ich nicht allzu lange davor mein Notenmanuskript von 1989 dann doch in irgendeiner alten Kiste gefunden, so dass ich zumindest mal das gute alte Stück von damals vollständig vorliegen hatte. Ich kramte also als Erstes ein ebenfalls ziemlich angestaubtes MIDI-Programm namens „Anvil Studio” hervor, mit dem ich irgendwann in den zwanzig Jahren davor mal ein paar musikalische Experimente vollführt hatte, ergänzte es um ein Add-In, mit dem man Noten ausdrucken konnte und begann, das Klavierstück eins zu eins auf vier Stimmen zu verteilen: die rechte Hand mehr oder weniger auf erste und zweite Violine, die linke Hand mehr oder weniger auf Viola und Violoncello.
Die erste wichtige Erkenntnis, die ich dabei gewinnen konnte, lautete: ein Violoncello kann nicht so tief spielen wie ein Klavier. Der tiefste Ton des Cellos ist das sogenannte „C2″, während das Klavier mindestens noch bis zum „A0″ heruntergeht — also weit über eine Oktave tiefer als das Cello. Damit war meine erste Aufgabe, die Cello-Stimme so anzupassen, dass keine tieferen Töne als C2 vorkamen. Das bedeutete im Wesentlichen, die tiefen Töne der Bassläufe um eine Oktave nach oben zu versetzen und wo nötig, die Vorgänger- und Folgetöne so anzupassen, dass ein einigermaßen organischer Stimmverlauf entsteht. Dies betraf vor allem zwei Stellen: Die Durchführung und die Schlusskadenz.
Ihr erinnert Euch noch? Für die Durchführung hatte ich — inspiriert von Schuberts „Unvollendeter” — das einleitende „Balalaika-Motiv” als Basismelodie in den Bass gesetzt. Diese Melodie ging jedoch so tief, dass ich die unteren Verdopplungen der Melodietöne schon mal weglassen musste. Aber auch dann rutschten am Ende immer noch einige Töne unter das C2, so dass ich an einer Stelle einen Sprung nach oben einfügen musste, was in folgender Illustration gut am roten Pfeil zu erkennen ist:
Ähnliches galt für die Schlusskadenz, für die ich mich ja — Ihr erinnert Euch noch — von Brahms hatte inspirieren lassen. Auch hier musste ich die absteigenden Tonfolgen an jenen Stellen um eine Oktave nach oben versetzen, an denen sie ansonsten unter das C2 geraten wären, was wiederum in folgender Illustration mit Hilfe roter Pfeile kenntlich gemacht ist:
Die nächste Erkenntnis lautete, dass ein auf Geigen gespieltes Klavierstück noch lange kein Streichquartett ist. Abgesehen davon, dass mein Anvil Studio nur wirklich sehr künstlich wirkende und insofern reichlich erbärmliche „Streicher”-Klänge zu synthetisieren in der Lage war, zeigte sich schnell, dass vier Instrumente, die als einzelne Stimmen zusammenspielen, schon vom Grundsatz her etwas ganz anderes sind, als ein einzelnes Instrument, das mehrere Stimmen gleichzeitig spielen kann. Während es nämlich beim Einzelinstrument vornehmlich um das von ihm erzeugte Klangbild als Ganzes geht, kommt es bei zusammenspielenden Instrumenten auch darauf an, dass jedes Einzelne davon in seiner Eigenständigkeit berücksichtigt wird und zur Geltung kommt. Hinzu kommt, dass für Streichinstrumente eine fundamental andere Tonerzeugungstechnik eingesetzt wird als für Hammerklaviere: ihre Töne können durch das Streichen praktisch beliebig lange gehalten werden, während Klaviertöne sofort nach ihrer Erzeugung durch den Filzhammer zu verklingen beginnen. Dieser Umstand bedingt ein entsprechend anderes musikalisches Denken für Streichinstrumente als für das Klavier. Schließlich passt auch die traditionelle „linke Hand/rechte Hand”-Denkweise des Klavierspiels nicht so recht in die Welt vierer eigenständiger Instrumente, die als Ensemble spielen.
Kurz gesagt: es war noch einiges umzuschreiben, damit das Stück halbwegs nach einem Streichquartett und eben nicht nach einem von Streichinstrumenten gespielten Klavierstück klang.
Schritt für Schritt
Na schön: an die Arbeit! Ich fing also ganz vorne an und schnappte mir daher als erstes meine Balalaika-artige Einleitung, deren schnelle Oktav-Tremolos sich so nicht auf einer Geige umsetzen ließen — und schon gar nicht als glaubhafte Simulation eines Balalaika-Klangs. Daher entschied ich mich, die Balalaika-Idee komplett aufzugeben, und die erste Violine stattdessen das Einleitungsthema einfach linear herunterspielen zu lassen:
Als nächstes nahm ich mir die walzerartige Dreivierteltaktbegleitung des Hauptsatzes vor. Hier fand ich es nach dem ersten Durchhören der „1:1”-Transkription schlichtweg zu banal, dass Cello, Bratsche und zweite Violine einfach durchgehend parallel zueinander unterschiedliche Töne der jeweiligen Begleitakkorde spielen sollten — also als exakte Imitation der linken Klavierhand. Stattdessen ließ ich die zweite Violine an ausgewählten Stellen lieber ab- bzw. aufsteigende Tonfolgen spielen, um ihr eine gewisse Eigenständigkeit zu verleihen, was im Folgenden durch rote Noten hervorgehoben ist. Gleichzeitig ließ ich die zweite Violine im letzten Teil des Hauptsatzes eine eigenständige absteigende Begleitfigur gefolgt von einem sich auf und ab bewegenden Zwischenmotiv spielen, die im Folgenden durch grüne Noten hervorgehoben sind:
Für den Seitensatz ging ich dann noch ein bisschen weiter. Da sich hier die linke Hand des Klaviers im Wesentlichen vollständig auf das Cello und die rechte Hand auf die erste Violine übertragen ließen, hatten zweite Violine und Bratsche gewissermaßen an dieser Stelle „nichts zu tun”. Anders gesagt: ich hatte hier noch zwei Stimmen frei, die ich ohne konkrete Bezugnahme auf die Klavierpartitur gestalten konnte. Also nahm ich mir zuerst die Bratsche vor und ließ sie für den ersten Teil des Seitensatzes einen aus langen Noten zusammengesetzten Klangteppich unter der ersten Violine spielen (nachstehend in Rot hervorgehoben):
Die zweite Violine ließ ich in hingegen weitgehend oberhalb der ersten Violine spielen — diesmal sogar konsequent mit Noten in voller Taktlänge (nachstehend in Grün hervorgehoben):
Aus heutiger Sicht war das satztechnisch wohl nicht das Allerklügste, denn im Gegensatz zum Orchester, wo Streicher gerne mal einen sanften Klangteppich über die anderen Stimmen legen können, konkurrieren die beiden Violinen im Streichquartett meist über die Tonhöhe miteinander um die Vorherrschaft im entstehenden Klangbild. Und wie sich später in der Aufnahme mit echten Instrumenten noch zeigen sollte, klaut meine entsprechend gesetzte zweite Violine an dieser Stelle tatsächlich der Ersten ein wenig die Show. Aber gut: so lernt man dazu…
Für den zweiten Teil des Seitensatzes ließ ich zweite Violine und Bratsche dann wiederum gemeinsam in zueinander passenden Intervallen unregelmäßige Stakkato-Viertel als punktuelle Akzente spielen, um die intendierte Wirkung der leidenschaftlichen Unruhe dieser Passage zu unterstreichen (nachfolgend in Rot hervorgehoben). Kurz vor der Schlussgruppe ließ ich die beiden dagegen durch Achteltriolen eine gewisse Zusatzdramatik erzeugen, um den nahenden Abschluss des Seitensatzes deutlicher hervorzuheben (nachfolgend in Grün dargestellt):
Insgesamt stellte sich damit die Exposition meiner Streichertranskription schließlich wie folgt dar:
Neu durchgeführt
Nicht dass jetzt der Eindruck entsteht, ich hätte das damals eben mal so locker aus dem Ärmel geschüttelt, wie es meine obigen Schilderungen vielleicht Glauben machen. Das alles ist eher das Ergebnis vieler „Trial and Error”-Zyklen, und das gute alte Anvil Studio machte die Sache mit seinen extrem synthetischen, schrillen „Geigen”-Klängen auch nicht gerade leichter. Hier z.B. mal der Anfang der Exposition als eine kleine Kostprobe der Klangsimulation, mit der ich in der Anfangszeit meines Transkriptionsvorhabens leben musste:
Zwar konnte man damit durchaus arbeiten, aber jetzt mal ehrlich: dieses jämmerliche Gequietsche klingt doch mehr nach Leierorgel auf dem Jahrmarkt als nach Streichquartett und grenzt insoweit schon sehr haarscharf an eine Zumutung. Den eigentlichen Schritt in die rechnergestützte Musikerzeugung mit angemessenen Werkzeugen ging ich tatsächlich erst ein paar Wochen später. Doch dazu kommen wir noch.
Mir stand jetzt erstmal die Aufgabe ins Haus, als nächstes meine Durchführung für Streicher zu arrangieren. Hier zeigte sich — ähnlich wie für den Seitensatz — dass die beiden Hände des Klavier-Originals schnell auf Cello/Bratsche (unisono in Oktavabstand) und erste Violine verteilt waren, wobei ich letztere nach fünf Takten eine Oktave nach oben versetzen musste, weil die ursprüngliche Stimme aus dem Klavier-Original ansonsten unter den tiefsten Ton der Violine (das sogenannte „G3″) gerutscht wäre. Das Ergebnis dieser ersten 1:1‑Umsetzung klang indessen eher mager:
Also nahm ich die Bratsche gleich wieder aus dem Unisono mit der Cellostimme heraus, zumal dadurch ohnehin lediglich die Oktaven der Klavierpartitur nachgebildet wurden, was insofern dem Anspruch einer stimmlichen Eigenständigkeit der vier Quartett-Instrumente absolut nicht gerecht wurde. Stattdessen setzte ich die Töne der Bratsche in eine für mich sinnvolle harmonische Beziehung zur Cellostimme und verlieh ihr so ein Stück weit die gewünschte Eigenständigkeit. Dass ich dabei in meinem eher intuitiven Vorgehen den Gesetzen der polyphonen Stimmführung nicht gerade puristisch gefolgt bin, habe ich erst später erkannt. Aber auch hier gilt, dass die Lernkurve am Anfang nun einmal steiler ist als in der Folgezeit. Am Ende der Durchführung ließ ich jedenfalls die Achteltriolen vom Ende des Seitensatzes — gewissermaßen als universelles Erkennungsmerkmal eines nahenden Abschnittswechsels — in der Bratsche wieder aufleben. Das zugehörige Zwischenergebnis sah dann so aus:
Fein. Da klingen die Harmonien doch gleich schon eine ganze Stange reicher. Soweit also ein guter Anfang. Aber immer noch klaffte eine gähnende Lücke zwischen der ersten Geige und der Bratsche. Es galt daher nun, diese Lücke in Form einer geeigneten Stimme für die zweite Violine angemessen zu füllen. Ich experimentierte also zunächst mit synkopischen Noten in voller Taktlänge, die sich wieder einmal über der ersten Geige ansiedeln sollten. Die Synkopen sollten der Durchführung zu etwas mehr „Drive” verhelfen, während die hohen, langen Töne dem Ganzen einen sphärenklangartigen Einschlag verleihen sollten. Das Ergebnis präsentierte sich dann so (die entsprechende Stimme ist durch grüne Noten hervorgehoben):
Hm, naja — hat schon irgendwie was. Aber so wirklich organisch klingt es trotzdem nicht. Die zweite Geige kommt gerade zum Schluss der Durchführung dann doch etwas sehr gewollt und zu aufdringlich durch. Auch strebt sie nicht in einer klaren Dramaturgie auf das Ende der Durchführung zu und wirkt insoweit eher beliebig. Ich schob also meine ohnehin ja schon reichlich einfach und regelmäßig strukturierten Noten ein wenig hin und wieder ein wenig her. Aber so richtig zünden wollte das Ganze einfach nicht. Da musste schlichtweg noch mehr, noch irgendetwas Raffinierteres passieren. Und da fiel es mir plötzlich wie Schuppen aus den Augen: hier gehörte ganz klar eine Einarbeitung des Seitensatzes hin, wie sie nach der reinen Lehre der Sonatensatzform für eine Durchführung ja auch eigentlich gefordert wäre! Schließlich soll die Durchführung ja die beiden kontrastierenden Themen aus der Exposition — also den Hauptsatz und eben auch den Seitensatz — gerade so gemeinsam verarbeiten, dass es in der anschließenden Reprise zu einer Synthese der Themen kommen kann.
Ihr erinnert Euch vielleicht noch ein meine diesbezüglichen Einlassungen zur Gestaltung meiner Durchführung aus dem ersten Teil dieser Beitragsserie: auf die Verarbeitung des Seitensatzes in der Durchführung hatte ich vor allem als Tribut an die spieltechnische Einfachheit meines Werks verzichten müssen, da ich es ja selbst auf Klavier einspielen wollte. Diese Einschränkung war aber jetzt nicht mehr gegeben, denn nun waren statt meiner selbst vier Streicher gefragt, die ihr Handwerk ohnehin gut genug beherrschen müssten, um mein Stück mit allem drum und dran fehlerfrei aufführen zu können.
Also ließ ich die zweite Geige zunächst wieder die ersten paar der synkopischen Noten spielen, die ich in meinem ersten Versuch zusammengebastelt hatte (mit ganz wenigen Modifikationen). Nach sechs Takten dieser Art schnappte ich mir dann aber das charakteristische Motiv vom Anfang des Seitensatzes und setzte es in harmonisch angepasster Form an diesen ruhigen Vorlauf an. Aus der zweiten Hälfte des anfänglichen Seitensatzmotivs machte ich hingegen eine Sequenz, die sich bis zum Ende der Durchführung fortspinnen sollte, wo sie schließlich durch die mehrfach angesprochenen Achteltriolen als Erkennungsmerkmal für den kommenden Abschnittswechsel — parallel zur Bratsche — abgelöst werden sollte. Das Ergebnis sah dann wie folgt aus (die zweite Geige ist wiederum durch grüne Noten hervorgehoben):
Na bitte — es geht doch! So war es für mich eine runde Sache, und die immer noch klaffende Wunde einer aus pragmatischen Gründen unvollständig belassenen Durchführung war nach ziemlich genau dreißig Jahren endlich geschlossen und verheilt! Ich war zufrieden mir (und wer mich kennt, der weiß, dass das nicht allzu oft passiert, wo ich doch selbst mein erbittertster Kritiker bin). Jedenfalls für diesen Moment.
Neu zurückgeholt
Es verblieb also noch die entsprechende Anpassung der Reprise und der Coda. Für die Reprise des Hauptsatzes griff ich auf analoge Stilmittel zu denen aus der Exposition zurück: zunächst die seufzerartigen auf- und absteigenden Tonfolgen in der zweiten Violine (nachstehend in Rot hervorgehoben) gefolgt von der absteigenden Begleitfigur und dem auf- und absteigenden Zwischenmotiv (nachstehend in Grün hervorgehoben) — jeweils an die veränderte Gestalt des Hauptsatzes angepasst:
Auch für die Reprise des Seitensatzes orientierte ich mich naturgemäß an der bereits existierenden Transkription der Exposition. Im ersten Teil des zu wiederholenden Seitensatzes bildeten zweite Violine und Bratsche demnach wieder ihre Klangteppiche über- bzw. unter der ersten Violine (nachstehend wiederum durch rote Noten kenntlich gemacht):
Im zweiten Teil des Seitensatzes sollte die Bratsche ihre Klangteppiche zunächst fortsetzen. Für die zweite Violine hingegen wäre es mir zu banal vorgekommen, wenn auch sie einfach so ihren Klangteppich weiterproduziert hätte. Daher ließ ich sie der Hauptmelodie aus der ersten Violine folgen und zwar zunächst über, dann aber unter der ersten Violine. Der entsprechende Abschnitt ist nachstehend an den roten Noten zu erkennen. Die unregelmäßigen Akzente, die Bratsche und zweite Violine in der Exposition an der vergleichbaren Stelle gesetzt hatten, ließ ich wegen der abgewandelten Form dieses Segments in der Reprise weg. Stattdessen sollte die zweite Violine jetzt wieder der ersten folgen, während die Bratsche nur kurze Betonungen am Taktanfang zu spielen hatte (nachstehend an den violetten Noten zu erkennen). Zum Ende des Seitensatzes hin ließ ich die Klangteppiche in Bratsche und erster Violine wieder aufleben — diesmal jedoch in zueinander gespiegelten Notenlängen (kurz/lang vs. lang/kurz). Dadurch sollte noch etwas mehr Dramatik an dieser Stelle entstehen, die ja gewissermaßen den Höhepunkt der Reprise darstellte (nachstehend durch grüne Noten kenntlich gemacht). Schließlich sollten Bratsche und zweite Violine zu guter Letzt wieder ihre Achteltriolen spielen — wiederum als Erkennungsmerkmal für das nahende Ende eines Abschnitts im Sinne der Sonatenform:
Und damit war dann auch schon die Transkription der Reprise vollbracht — und zwar in einer Weise, die ich durchaus als zufriedenstellend empfand. Als Ganzes klang die Reprise damit so:
Kommt Leute — das hat doch was. Ist doch genau die Kombination aus Romantik, Leidenschaft, slawischen Klangwelten und tänzerischem Grundcharakter, die ich dereinst mit meinem Erstlingswerk in Musik gießen wollte, oder? Also mir gefällt’s jedenfalls. Das muss man in aller Bescheidenheit ja auch mal sagen dürfen…
Ende der Übertragung
Damit blieb also nur noch die Coda für meine vier Streicher zu arrangieren. Ihr erinnert Euch doch sicher noch an die Ausführungen, die ich in meinem vorigen Beitrag zur Coda meines ursprünglichen Klavierstücks gemacht hatte — also die Sache mit den „Balalaika”-artigen Oktavrepetitionen. Allerdings war an eine 1:1‑Übertragung dieser Klavier-Spieltechnik auf Streichinstrumente schon mal nicht zu denken, denn Geigen sind für diese Art von Tonwiederholungen einfach nicht gemacht. Es ist die eine Sache, Daumen und kleinen Finger auf dem Klavier lässig aus dem Handgelenk über eine Oktave hin- und herschaukeln zu lassen. Aber der Geigenbogen hat nun einmal eine gewisse Masseträgheit, so dass er einfach nicht so schnell fortwährend im Höchsttempo von einer Saite auf die andere und wieder zurück springen kann — schon gar nicht über längere Zeiträume hinweg. Was die Geige dagegen gut kann, ist die schnelle Wiederholung ein und desselben Tons, denn dann muss der Spieler den Bogen einfach nur an derselben Stelle schnell genug abwechselnd auf- und abstreichen lassen. Also experimentierte ich als erstes mit Tonwiederholungen anstelle der Oktavrepetitionen. Dabei entschied ich mich in Anlehnung an das mehrfach verwendete „Abschnittswechsel”-Erkennungsmotiv für Achteltriolen. Das Ergebnis klang dann so:
Ja, also — was soll ich sagen? Irgendwie ganz OK und so, aber wirklich prickelnd ist das nun nicht gerade. Da müsste schon noch was Knackigeres rein, dachte ich mir. Klar, so entspricht es wohl am ehesten dem Originaltext der Klaviervorlage, aber für ein Streichquartett ist es schlichtweg zu hölzern und simpel. Also ging ich nochmals in mich und ließ ein bisschen Streichermusik an meinem inneren Ohr vorbeiziehen.
Eines der schönsten Beispiele dieser Art ist für mich eindeutig Felix Mendelssohns Violinkonzert in e‑Moll (Op. 64) aus dem Jahre 1844. Es gilt gewissermaßen als der „Goldstandard” für romantische Violinkonzerte und bereitete in seiner originellen Formgebung so manchem Folgewerk, wie etwa Max Bruchs g‑Moll-Violinkonzert aus dem Jahre 1868 oder Pjotr Iljitsch Tschaikowskis D‑Dur-Violinkonzert aus dem Jahre 1878 den Weg. Außerdem höre ich zumindest im ersten Satz dieses Konzertes bisweilen Klangwelten durchscheinen, in denen sich ein winziges Bisschen der jüdischen Herkunft Mendelssohns offenbaren könnte. Aber das mal nur so nebenbei…
Am Ende der Durchführung des besagten ersten Satzes findet sich jedenfalls eine von Mendelssohn selbst auskomponierte Solokadenz (also ein Abschnitt, in dem die Solovioline quasi-improvisatorisch ohne Orchesterbegleitung spielt). Diese Kadenz schließt mit einer virtuosen Sequenz aus Arpeggios (harfenartige Akkordbrechungen), in die dann schlussendlich langsam wieder das Orchester einstimmt:
Natürlich ist mein bescheidenes Werk ganze Universen von einer solchen Sternstunde der Streichmusik entfernt. Aber derartige Arpeggien-Sequenzen oder wenigstens Folgen anderer Arten von Akkordbrechungen — das stünde meiner bisher doch eher unspektakulären Coda wahrlich gut zu Gesicht. Ich ließ mich also von dieser Passage inspirieren und löste meine eintönigen Achteltriolen in Dreiklangsbrechungen auf. Das Ergebnis klang dann so:
Na bitte: das kann sich doch hören lassen! Genau so darf die Transkription meines kleinen Werks ruhig klingen. Das war die Schlusskadenz, die dem Ganzen Unterfangen einen würdigen Abschluss verleihen sollte.
Wow! Meine Transkription war endlich fertig! Dreißig Jahre nach seiner Entstehung war aus meinem in Klaviermusik gefassten Verliebtheitsrausch also wahrhaft ein Streichquartett geworden! Das war ein bewegender Moment, Leute — ehrlich. Ich weiß nicht, ob Ihr auch schon mal sowas erlebt habt, aber mir bereitete das regelrecht Herzklopfen. Ich spürte einfach, dass da etwas entstanden war, das wirklich etwas Fundamentales von mir selbst gegenüber meiner Frau ausdrückte.
Klar: aus heutiger Sicht ist da drin noch so vieles, was mehr nach Gehör und Gefühl als nach den Regeln der Satzlehre geschrieben ist und insofern unbedingt verbessert werden müsste. Im Grunde müsste man eigentlich das ganze Stück nochmals einem gründlichen Revisionsprozess unterziehen und es von Grund auf für Streicher konzipieren. Aber hey: so wie es ist, ist es doch irgendwie authentisch und gibt meines Erachtens den Geist und auch die jugendliche Unbedarftheit des ursprünglichen Stücks angemessen wieder. Insofern habe ich mich damals dazu entschlossen, das Werk für beendet (gleichwohl vielleicht nicht wirklich für vollendet) zu erklären und es im bestehenden Zustand auf sich beruhen zu lassen. Als Ganzes klang es damit also so:
Das, was Ihr hier hören könnt, ist natürlich nur eine Klangsimulation, die mit Hilfe eines frei erhältlichen Notensatzprogramms erzeugt wurde (von dem — wie schon weiter oben angedeutet — im nächsten Beitrag noch die Rede sein wird). Selbstverständlich gibt es mittlerweile auch die Aufnahme einer professionellen Einspielung dieses Stücks. Und die klingt um Längen schöner als obige Simulation. Und keine Sorge: die kriegt Ihr natürlich auch noch zu hören. Aber alles der Reihe nach. Noch sind wir im späten November 2019, und da war es noch lange nicht so weit…
Und was nun?
Mittlerweile war es, wie gesagt, schon Ende November 2019 — also rund sieben Wochen vor der Feier. Schön, dass meine Transkription — die ich inzwischen in „Fantasia quasi una Sonata” („Fantasie, beinahe eine Sonate) umbenannt hatte — jetzt zu meiner eigenen Erbauung fertig war. Aber wie sollte daraus jetzt eigentlich eine live-Aufführung werden? Wo kriegt man überhaupt erstmal ein Ensemble her, das bereit ist, dieses Stück in der kurzen Zeit einzustudieren und live auf einer privaten Feier aufzuführen?
Ich wandte mich also Anfang Dezember 2019 hilfesuchend an den Leiter unseres Synagogenchors (ein musikalisch außerordentlich begabter, vor allem aber sehr lieber und hilfsbereiter Mensch, den meinen Freund nennen zu dürfen ich das Privileg habe) und schickte ihm das Stück mit der Frage, ob er Kontakt zu einem Streichquartett herstellen könne, welches das Stück während der geplanten Feier vorspielen könnte. Gleichzeitig durfte ich im Rahmen seiner erhofften Rückmeldung aber auch das erste Feedback erwarten, das ich zu meiner Transkription bekommen würde.
Ich war also durchaus aufgeregt, als ich seine E‑Mail-Nachricht am nächsten Tag in meinem Posteingang fand. Und siehe da: es schien ihm zu gefallen! Und was viel wichtiger war: es würde sich seiner professionellen Einschätzung nach tatsächlich mit „kleinen technischen Korrekturen” von einen Quartett spielen lassen und dabei „sehr fein klingen”. Leute: das ging runter wie Öl! Aus meiner wagemutigen Idee wurde greifbare Realität! Ich würde ein Stück geschrieben haben, das von echten Musikern aufgeführt werden würde — eine absolut neue Erfahrung für mich.
Ja, ich weiß, was jetzt gleich kommt: „sag mal, geht es hier um eine Überraschung für Deine Frau oder um Dich und Deine Selbsterfahrung?” Eine berechtigte Frage. Ich selbst war jedenfalls über alle Maße begeistert und konnte mir eigentlich nur wünschen, dass meine Frau bei der noch zu planenden Aufführung wenigstens annähernd so begeistert sein würde. War das Ganze also in Wahrheit ein als Überraschung für meine Frau getarnter Egotrip? Ich wünschte, ich könnte das dezidiert mit „nein” beantworten, aber das wäre wohl nicht ganz ehrlich. So ganz frei von Egotrip wird es denn wohl auch nicht gewesen sein. Andererseits: es machte mir auf alle Fälle unendlich Spaß, und es würde so oder so eine wirklich besondere Überraschung für meine Frau herauskommen. Wenn sich darüber hinaus auch noch ein mehr oder weniger großes Stück Egotrip dahinter verbirgt — so what? Am Ende zählt doch das Ergebnis.
Apropos Ergebnis: wie ging die Geschichte jetzt eigentlich weiter? Kam es wirklich zur Aufführung? Wenn ja: wie ist sie gelaufen? Und: was war mit den einleitend bzw. im vorangegangenen Beitrag angedeuteten weiteren Sätzen des Stücks?
Davon, Ihr Lieben, soll im nächsten Teil dieser Beitragsserie ausführlich die Rede sein, in dem es um Dezember 2019 und Januar 2020 gehen soll. Ihr dürft also mal wieder gespannt bleiben…
Alles Liebe
Daniel