Hallo Ihr Lieben,
es sieht so aus, als hätte ich im zweiten Pandemiejahr gerade mal einen einzigen Blogbeitrag hervorgebracht — und den auch noch ausgerechnet zur Pandemie selbst. Eigentlich schade, denn das Schreiben von Blogbeiträgen bereitet mir auch weiterhin größtes Vergnügen. Umso mehr freue ich mich, Euch im dritten (und hoffentlich bis auf Weiteres letzten) Pandemiejahr eine kleine Serie von Beiträgen präsentieren zu können, in denen es um ein Thema geht, das mir ganz besonders am Herzen liegt und das gerade angesichts dieses Umstands bisher eindeutig zu kurz gekommen ist: Musik.
Über Musik kann man natürlich unendlich viel schreiben. Ich würde außerdem annehmen, dass fast alles von dem, was ich selbst dazu zu sagen hätte, schon längst von viel kompetenteren Leuten als mir geschrieben und veröffentlicht worden sein dürfte.
Allerdings gibt es da etwas, über das selbst die kompetentesten Leute im Zusammenhang mit Musik nicht schreiben können, nämlich über meine ganz persönliche Selbsterfahrung mit Musik — genauer gesagt: mit deren Schöpfung. Denn mit Musik verhält es sich meines Erachtens so, wie mit jeder anderen Materie: man begreift sie erst dann wirklich, wenn man sich kreativ darin betätigt.
Wir alle kennen das: man kann ja durchaus viel über ein bestimmtes Thema gelesen, gehört oder gesehen haben und dabei sogar zu der aufrichtigen Überzeugung gelangt sein, alles verstanden zu haben. Spätestens aber, wenn man dann anschließend gefordert ist, das vermeintlich Verstandene in eigene Worte zu fassen bzw. zur praktischen Anwendung zu bringen, merkt man schnell, wie grau doch alle Theorie ist. Die Farbe der Praxis kommt demgegenüber erst dann wirklich ins Spiel, wenn man beginnt, seine kreativen Fähigkeiten in den bisher nur theoretisch erfassten Gegenstand einzubringen.
Das ist exakt die Erfahrung, die ich gemacht habe, als ich mich dereinst auf den langen Weg zur Schaffung eigener Musik begeben hatte. Ein Weg, der in Jugendjahren mit einem Klavierstück als musikalische Liebeserklärung begann und einige Jahrzehnte später in ein vollwertiges Streichquartett — dabei immer noch als musikalische Liebeserklärung — mündete. Was ich dabei erlebt habe — auch und gerade in emotionaler Hinsicht — und was dabei herausgekommen ist, hat mir dermaßen viel Inspiration verliehen, dass ich das ausgeprägte Bedürfnis verspüre, diese oft sehr bewegenden Erfahrungen mit Euch zu teilen. Genau dies soll in vorliegendem Beitrag (und drei weiteren Folgebeiträgen) denn nun auch geschehen.
Jugendlicher Leichtsinn
Meine Geschichte beginnt im Jahre 1989. Noch stand die Berliner Mauer scheinbar für die Ewigkeit und kaum einer ahnte, dass der Niedergang des Warschauer Pakts und mit ihm das Ende des Ost-/Westkonflikts, der Deutschen Teilung und der gesamten Sowjetunion in den darauffolgenden Monaten Schlag auf Schlag vollzogen werden würde. Chemnitz hieß noch „Karl-Marx-Stadt”, St. Petersburg hieß „Leningrad”. Niemand besaß ein Mobiltelefon, das Festnetz war in der monopolistischen Hand der „Deutschen Bundespost Telekom”, Ortsgespräche kosteten zu Spitzenzeiten unfassbare 2,9Pf/Min (=1,48Ct/Min), Ferngespräche (innerhalb Deutschlands!) waren mit mindestens 35,8Pf/Min (=18,3Ct/Min) der reinste Luxus und für Auslandsgespräche musste man in mehreren DM/Min rechnen. Die ersten privaten Fernsehsender erblickten in Deutschland nach jahrzehntelangem Monopol der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten gerade das Licht der Welt. Das Internet existierte nur als exklusive Vernetzung ausgewählter akademischer und militärischer Einrichtungen, Helmut Kohl stand die Blütezeit seiner Kanzlerschaft kurz bevor, George Bush Senior hatte gerade sein Amt als frisch gewählter 41. Präsident der Vereinigten Staaten angetreten und in Moskau war Michail Gorbatschow seit vier Jahren dabei, den legendären Umbau der Sowjetunion voranzutreiben, der unter dem Schlagwort „Perestrojka” berühmt werden sollte.
In mein Leben war mit dem Ausklang des Jahres 1988 die zauberhafteste junge Dame getreten, die es auf der ganzen Welt gibt (und mit der verheiratet zu sein ich bis heute das große Privileg habe). Entsprechend frisch bis über beide Ohren in sie verliebt, fühlte ich mich unbändig gedrängt, ihr mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zum Ausdruck zu bringen, welche Euphorie es in mir hervorrief, ihr Herz für mich erobert zu haben. Dazu gehörten kurze Gedichte, die ich ihr immer mal wieder per Brief zusandte (ja, damals gab es noch sowas wie Mail ohne „E-”) ebenso wie selbst gezeichnete Comic-Strips im avantgardistischen Stil. Lyrik und bildende Kunst waren damit also abgedeckt. Was aber fehlte noch? Richtig: Tonkunst. Es musste ein Musikstück her, das meine rauschartige Gefühlslage in Klang ausdrückt. Erst dann würde ich ihr in Wort, Bild und Ton vermittelt haben, in welch einen Liebesrausch sie mich versetzt hatte.
Hervorragende Idee — allein: wie macht man das? Wie schreibt man ein romantisches, leidenschaftliches Musikstück? Meine Eignung für so ein Unterfangen stützte sich auf Klavierunterricht, den ich damals seit vier Jahren absolvierte, Gitarrenspiel, das ich elf Jahre zuvor zu lernen begonnen, wenige Jahre danach aber schon wieder aufgegeben hatte und meine mündliche Abiturprüfung in Musik, die ich zwei Jahre zuvor mit vorzeigbarem Erfolg abgelegt hatte. Außerdem hatte ich zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Jahren ausnehmendes Interesse für klassische Musik entwickelt und mich insoweit wenigstens schon mal hobbymäßig mit solch abstrakten Themen wie Formen- und Harmonielehre beschäftigt. Gänzlich unvorbereitet war ich also nicht.
Aber ist das wirklich schon alles, was man braucht, um ein eigenes Stück komponieren zu können? Aus heutiger Sicht ganz schön vermessen. Wie gut, dass ich mit zarten 21 Jahren also noch von einem gewissen jugendlichen Leichtsinn (gepaart mit dem Gefühl, aus meiner Verliebtheit heraus die ganze Welt umarmen zu können) beseelt gewesen bin, der solcherlei Bedenken geflissentlich zu übergehen ermöglichte.
Nicht ganz unbeeinflusst von meinem damals relativ frisch begonnenen Informatikstudium bemühte ich mich also zunächst einmal um einen halbwegs systematischen Designansatz für mein Musikprojekt und trug als ersten Schritt die wesentlichen Designvorgaben für mein zu schaffendes Opus zusammen. Hierfür identifizierte ich fünf wesentliche Punkte:
- Das Stück sollte romantisch und leidenschaftlich klingen (was ja die eigentliche Motivation des ganzen Vorhabens war).
- In dem Stück sollte das sternenartige Funkeln zum Ausdruck gelangen, das von der exotischen Schönheit der jungen Dame (allemal in meiner Wahrnehmung) ausging (und natürlich auch heute noch ausgeht).
- Das Stück sollte tänzerisch klingen (in Anspielung auf die Tanzbegeisterung der jungen Dame).
- Das Stück sollte „russisch” oder zumindest „osteuropäisch” klingen (in Anspielung auf die Abstammung der jungen Dame aus der ehemaligen Sowjetunion).
- Das Stück musste in spieltechnischer Hinsicht einfach genug sein, damit ich es mit meinen bescheidenen Instrumentalfertigkeiten selbst auf dem Klavier spielen kann.
Der geschulte Blick auf diese Liste offenbart dabei schnell einen gewissen Zielkonflikt: während die Punkte 1 bis 4 lauter durchaus anspruchsvolle Vorgaben an den Inhalt des zu schaffenden Musikstücks enthielten, forderte Punkt 5 ausgerechnet die spieltechnische Einfachheit desselben Werks und schränkte die Gestaltungsmöglichkeiten für die Umsetzung der ersten vier Punkte entsprechend ein. Besagter jugendlicher Leichtsinn der frühen zwanziger Lebensjahre scheint sich aber auch von solchen Widersprüchen nicht verprellen zu lassen, so dass ich mich voller trotzigem Tatendrang und wohl auch mit einer ordentlichen Prise Naivität an die Arbeit machte.
Formgebung
Als eingefleischter Mozart-Fan war mir auch klar: das Ganze sollte mehr oder weniger in Sonatensatzform gegossen werden. Jene Struktur also, in der die ersten Sätze so ziemlich sämtlicher Sonaten, Sinfonien und letztlich auch Solokonzerte der Wiener Klassik (und teils weit darüber hinaus) angelegt sind. Die Sonatensatzform unterteilt das Musikstück grob gesagt in drei Teile: die „Exposition”, die „Durchführung” und die „Reprise”:
In der Exposition werden dabei — wie der Name schon sagt — die bestimmenden Themen des Stücks vorgestellt. Genauer gesagt sind es derer zwei, die mehr oder minder stark zueinander in Kontrast stehen (also insbesondere in verschiedenen Tonarten gesetzt sind). Sie werden als „Hauptsatz” und „Seitensatz” bezeichnet. Die Exposition sieht damit also —grob gesagt — etwa so aus:
Zwischen Haupt- und Seitensatz wird in der Regel noch eine Überleitung eingefügt und an das Ende des Seitensatzes schließt sich normalerweise die sogenannte „Schlussgruppe” an, welche die Exposition ihrem Ende zuführt.
In der anschließenden Durchführung werden Hauptsatz und Seitensatz (also die beiden kontrastierenden Themen aus der Exposition) in der Regel thematisch verarbeitet und zueinander in Beziehung bzw. Kontrast gesetzt. Die Durchführung sieht damit also gewissermaßen so aus:
Schließlich wird in der Reprise — wie auch hier der Name schon sagt — die Exposition im Wesentlichen wiederholt. „Im Wesentlichen” deshalb, weil Haupt- und Seitensatz jetzt nicht mehr so kontrastieren, wie sie es noch in der Exposition getan haben. Stattdessen wurden Sie gewissermaßen während der Durchführung miteinander „versöhnt”, so dass sie jetzt insbesondere in derselben Tonart und in thematisch stärker einander angeglichener Form erklingen. Die Reprise kann man sich demnach bildlich in etwa so vorstellen:
Auch in der Reprise tauchen Überleitung und Schlussgruppe in meist abgewandelter Form wieder auf, und der Sonatensatz wird dann am Ende der Reprise noch mit einer Coda seinem musikalischen Abschluss zugeführt.
Unterm Strich ist das Ganze letztlich nichts anderes als das musikalische Pendant zum Grundprinzip der Dialektik, das dereinst im antiken Griechenland ersonnen und etwa zur Entstehungszeit der Sonatensatzform von Hegel zum philosophischen Leitsatz ausgearbeitet wurde: „These, Antithese, Synthese”.
Erste Gehversuche
Na schön, die Designvorgaben standen ebenso wie die Form fest. Jetzt galt es also, geeignete Themen für Haupt- und Seitensatz zu finden (oder vielmehr: zu erfinden).
Die erste Entscheidung war ziemlich einfach: zur Umsetzung der Designvorgabe Nr. 3 („tänzerischer Klang”) sollte das Stück im Dreivierteltakt erklingen. Jener Takt also, der universell mit dem Walzer assoziiert wird, so dass automatisch eine tänzerische Atmosphäre entsteht. Soweit, so gut.
Als nächstes musste aber ein Thema für den Hauptsatz ge- bzw. erfunden werden. Dieses hatte ich — einem gewissen Bauchgefühl folgend — für die Umsetzung von Vorgabe Nr. 2 vorgesehen, also der klanglichen Darstellung jener sternenartig funkelnden Schönheit meiner Herzallerliebsten. Beim Gedanken an sternenartiges Funkeln kam mir in direkter Assoziation die Vertonung des jiddischen Gedichts „Unter dayne vayse shtern” („Unter deinen weißen Sternen”) von Avraham Sutskever in den Sinn, die Lazar Weiner im Jahre 1950 komponiert hatte. Genauer gesagt hatte ich dabei die wundervoll arrangierte Version von Chava Alberstein im Ohr. Zwar ist das Gedicht alles andere als eine romantische Liebeserklärung. Im Gegenteil: es ist vermutlich 1943 im Ghetto von Wilna verfasst worden und handelt von der verzweifelten Suche nach der tröstenden Zuwendung G*ttes inmitten des Grauens der Shoah. Aber: musikalische Stilmittel stehen für sich selbst — ziemlich unabhängig vom Kontext, für den sie eingesetzt werden. Insofern schien mir das verwendete Hauptmotiv des besagten Liedes genau das Klangbild zu erzeugen, das ich mit einem von funkelnden Sternen übersäten klaren Nachthimmel assoziieren würde:
Gerade die pulsierenden Achtelfolgen, die im ersten Takt entlang des Grundton-Akkords emporsteigen aber auch der impulsive Wechsel zischen Terz- und Sekundintervallen (also Dreiton- und Zweitonsprüngen) kreierten nach meinem Empfinden genau jene Stimmung des romantischen Funkelns, die ich in Musik fassen wollte. Ich ließ mich also von diesem Thema inspirieren und kam dabei zu folgendem Hauptmotiv meines ersten Themas:
Sowohl die Achtelfolgen als auch die abwechselnden Sekund- und Terzintervalle machte ich mir darin also weitgehend zu eigen, gleichwohl ich einen größeren Tonumfang und damit ein paar größere Intervalle eingebaut hatte, um noch mehr Überschwänglichkeit in das Thema zu packen. Dass ich mich dabei in Sachen Tonart anstelle von h‑Moll (wie in Chava Albersteins Vorlage) für a‑Moll entschied, hatte einen einfachen Grund: a‑Moll hat als Paralleltonart von C‑Dur keine Vorzeichen und wird daher überwiegend auf den weißen Tasten des Klaviers gespielt, womit insbesondere der Designvorgabe Nr. 5 (einfache Spielbarkeit auf dem Klavier) Rechnung getragen werden sollte. Eigentlich ist a‑Moll ja ausgerechnet in der von mir so geschätzten Wiener Klassik gerade keine sonderlich beliebte Tonart gewesen. Ihm wird aber immerhin attestiert, dass es zärtliche — ja geradezu weibliche — Charakterzüge habe und sich durchaus dazu eigene, orientalische Stimmung wiederzugeben. Passte also insofern doch wieder ganz gut zu meinen sonstigen Designvorgaben.
Mit dem Thema war es mir nach meiner festen Überzeugung also immerhin schon mal gelungen, das strahlende Sternenfunkeln der exotischen Schönheit meiner Herzallerliebsten in Musik zu einzufangen — für mich ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ich fing also gleich noch ein wenig mehr Feuer und stellte mir als nächstes die folgerichtige Aufgabe, eine geeignete Harmonisierung im angesprochenen Dreivierteltaktrhythmus hinzuzufügen.
Hier machte sich glücklicherweise meine intensive Beschäftigung mit Musik aus den davorliegenden Jahren mitsamt der zugehörigen Hörerfahrung und dem daraus geprägten Bauchgefühl für Harmonie in vollem Umfang bezahlt, zumal der Verlauf meines Themas eine sehr einfache, konventionelle Harmoniefolge suggerierte. So wirklich außergewöhnlich war das ja auch nicht (für die musikalisch Interessierteren unter Euch: die sprichwörtliche Musik spielte sich in höchst konventionellen Wechseln zwischen Tonika, Subdominante und Dominante ab). Herausgekommen ist dabei das Folgende:
Es funkelte und tanzte plötzlich genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte! Im wahrsten Sinne des Wortes also eine stimmige Sache. Daher sollte es gleich weiter im Text gehen…
Üblicherweise wird das Grundgerüst des Hauptsatz-Themas innerhalb der Sonatensatzform anschließend in geeigneter Weise entwickelt und fortgeführt. Ich ließ also meiner seit Jahren überwiegend von klassischer Musik geprägten Hörgewohnheit freien Lauf und versuchte, das Thema in der Art weiterzuentwickeln, wie ich es von vielen anderen Stücken im Ohr hatte. Letztlich kamen dabei weiterhin reichlich konventionelle aber — wie ich finde — wirkungsvolle Stilmittel zum Einsatz (wiederum für die musikalisch interessierten unter Euch: Wechsel in die Paralleltonart, Trugschlüsse, Rameau-Akkorde und Doppelkadenzen) — und alles natürlich immer unter dem stark einschränkenden Diktat der leichten Spielbarkeit auf dem Klavier. Damit war der Hauptsatz dann auch schon fertig:
An die Seite gesetzt
Schön und gut. Mein erster Schritt in die Welt der Sonatensatzform war nach meinem Empfinden gelungen. Jetzt aber heiß es, dem Ganzen einen kontrastierenden Seitensatz entgegenzusetzen.
Ein Blick auf die Designvorgaben ergab, dass die Punkte 2, 3 und 5 (sternenfunkelnde Schönheit, tänzerischer Charakter und spielerische Einfachheit) ja bereits soweit umgesetzt waren. Für den Seitensatz nahm ich mir daher Punkt 1 vor: Leidenschaft und Romantik. Das passte auch recht gut, denn der Seitensatz sollte ja in gewissem Kontrast zum Hauptsatz stehen und insofern einen ruhigeren und heitereren Charakter bekommen. Ich endschied mich daher für eine Melodieführung mit überwiegend halben und Viertelnoten im Gegensatz zu den kürzeren und schnelleren Achtelnoten aus dem Hauptsatz. Außerdem legte ich die Tonhöhen des Seitensatzthemas viel enger aneinander als im Hauptsatz, um jetzt im Sinne der Kontrastbildung deutlich weniger melodische Spannung aufzubauen. Zu guter Letzt führte ich die Melodie — wiederum im Sinne der Kontrastbildung — in die heiterer klingende Paralleltonart (C‑Dur), die somit im gewünschten (und geforderten) Gegensatz zur schwermütigeren Grundtonart (a‑Moll) des Hauptsatzes stand.
Obwohl ich rückblickend nicht wirklich sicher bin, meine ich mich daran zu erinnern, dass ich mich für Seitensatz-Thema letztlich von Chopins Präludium Nr. 20 aus Op. 28 inspirieren lassen hatte. Die Ähnlichkeit ist jedenfalls nicht zu leugnen, wenn man sich das Ergebnis anhört:
Soweit also die sanfte Romantik in Form einer ruhigen, spannungsarmen Melodie mit Dur-Harmonik. Apropos Harmonik: es musste ja noch eine harmonisierende Begleitung zu diesem Thema her. Dieser wollte ich dabei gleich noch die Rolle zukommen lassen, nun auch das Motiv Leidenschaft (also den zweiten Teil von Punkt 1 meiner Designvorgaben) musikalisch umzusetzen. Leidenschaft erfordert aber gerade mehr Spannung und Unruhe. Also ging ich wieder auf die Achtelnoten-lastige Melodieführung aus dem Hauptsatz zurück, versetzte sie jedoch im Sinne der Kontrastbildung in die Bassstimme und benutzte sie gleich noch dazu, die erforderliche Harmonisierung in weit gespreizten Akkordbrechungen erklingen zu lassen. Aus heutiger Sicht sind die von mir gewählten Akkordbrechungen wohl vor allem davon beeinflusst gewesen, dass ich meine ersten Instrumentalerfahrungen auf der Gitarre gemacht hatte, denn — ehrlich gesagt — es klingt wirklich wie eine typische Gitarren-Begleitfigur.
Für die melodische Fortführung des Seitensatzthemas ließ ich mich zudem ein wenig von der ersten Episode aus dem Adagio von Mozarts Klarinettenkonzert (KV 622) inspirieren, die Ihr hier hören könnt.
Im Ergebnis ist dann das Folgende entstanden:
Auch damit war ich nach all der Tüftelei durchaus zufrieden. Ich meine: Hey, wow — mein erster eigener Sonatensatz nahm gerade richtig Gestalt an!
Also: gleich weiter, denn die Sonatensatzform fordert ja noch die Anfügung einer Schlussgruppe, mit deren Hilfe die Exposition zu einer würdigen Kadenz — also einem angemessenen musikalischen Abschluss — geführt werden soll. Das dabei zur Anwendung gelangte Themenmaterial rekrutiert sich üblicherweise aus Fragmenten des Haupt- und Seitensatzes. Es lag also nahe, den Seitensatz zunächst auf Basis seines eigenen Themenmaterials so fortzuführen, dass er langsam wieder in die melancholische Tonart des Hauptsatzes (also a‑Moll) zurückkehrt, um dort dann von den Schlussfragmenten des Hauptsatzes in Empfang genommen und einer angemessenen Schlusskadenz zugeführt zu werden. Wieder ließ ich also dem assoziativen Denken auf Basis meiner Hörgewohnheit freien Lauf und gelangte über eine Folge verschiedener Sequenzen schließlich zu folgendem Ergebnis:
Wow! Jetzt hatte ich meine erste Sonatensatz-Exposition fertig. Cool. Ich war, soweit ich mich heute noch erinnern kann, ziemlich zufrieden!
Allerdings fehlte dazu noch eine Kleinigkeit: die selbstgewählte Designvorgabe Nr. 4, also der „russische” Einschlag.
Eingeleitet
Eigentlich ungünstig, denn ich hatte ja schon die gesamte Exposition und damit insbesondere beide der geforderten zwei Themen fertig. Dem jetzt noch nachträglich was russisch/slawisch-wie-auch-immer zu bezeichnendes aufzusetzen, würde fast alles wieder umschmeißen, was ich mir so mühevoll zurechtgebastelt hatte.
Zum Glück gestattet die Sonatensatzform es aber noch, der Exposition eine Einleitung voranzustellen, die mit eigenem thematischen Material aufwarten darf. Diese sollte also nun zur Umsetzung von Designvorgabe Nr. 4 herhalten und insofern die osteuropäische Klangwelt repräsentieren.
Obwohl durchaus klischeehaft, experimentierte ich ein wenig mit der Imitation von Balalaika-Klängen, die ja gemeinhin mit russischer Volksmusik assoziiert werden. Die Balalaika wird dazu gerne mit schnellen Tonrepetitionen gespielt, wodurch sich länger zu haltende Noten quasi „simulieren” lassen, denn eigentlich verklingt ein Balalaika-Ton sehr schnell. Ein populäres Beispiel dafür findet sich hier. Also galt es, schnelle Tonwiederholungen und entsprechend charakteristische Tonintervalle zu kombinieren. Letztere finden sich in den großen Sekundschritten (also in Schritten von drei statt zwei Halbtönen) der sogenannten „Sinti und Romaskalen” (einstmals „Zigeunertonart” genannt) und werden je nach Tongeschlecht auch „arabische Tonleiter” (Dur) bzw. „ungarische Tonleiter” (Moll) genannt. Schnelle Tonwiederholungen auf dem Klavier lassen sich hingegen am einfachsten als Oktav-Tremolo realisieren, indem man dann beim Spielen der Oktave kräftig die Hand hin- und herschüttelt. All das zusammengenommen ergab nun folgendes Einleitungsthema:
Do you like my Bala-like‑a? Ich fand jedenfalls, dass das ziemlich gut zu dem passte, was ich damit ausdrücken wollte. Alle Designvorgaben waren also nach meiner Einschätzung erfüllt und die Exposition samt Einleitung somit fertig! Das Ganze gefiel mir sogar dermaßen gut, dass ich gerne dem gebräuchlichen Vorgehen für die Sonatensatzform folgte, die Exposition aus didaktischen Gründen zu wiederholen, damit sich der geneigte Hörer die charakteristischen Merkmale der Haupt- und Seitensatzthemen besser einprägen und sie dadurch in der später folgenden Durchführung und Reprise entsprechend besser wiedererkennen kann. Alles in allem gelangte ich also zu folgendem Gesamtbild meiner Exposition:
ABgesang an die Synthese
Mit der fertigen Exposition war nun also das gesamte thematische Material für mein Opus vollständig geschaffen. Die Arbeit war damit allerdings noch längst nicht getan. Genau genommen fing sie eigentlich jetzt erst richtig an, denn Themen zu erfinden und gemäß den langjährig geprägten Hörtraditionen zu harmonisieren und vervollständigen, war das Eine. Das Andere hingegen war jenes, was die Sonatensatzform nun als nächstes verlangte: die Durchführung mit ihrem hehren Anspruch, die beiden kontrastierenden Themen der Exposition so zu verarbeiten, dass eben jener Kontrast zwischen den Themen für die spätere Reprise aufgeweicht wird. Jetzt erst ging es also richtig ans Eingemachte!
Wieder einmal stand ich damit vor einem weißen Blatt und wieder einmal suchte ich nach irgendeinem brauchbaren Ansatz, um einen sinnvollen Einstieg in mein ehrgeiziges Vorhaben zu finden. Diesmal küsste mich die Muse glücklicherweise in Form der Erinnerung an das, was ich im gymnasialen Musikunterricht über den ersten Satz aus Schuberts Sinfonie in h‑Moll (Deutsch-Verzeichnis Nr. 759) — besser bekannt als „Die Unvollendete” — gelernt hatte. Jener erste Satz dieses unbeschreiblich aufrüttelnden Meisterwerks eines viel zu jung gestorbenen Ausnahmekomponisten steht natürlich in welcher Form? Bingo: in Sonatensatzform!
Naja, jedenfalls sieht es vordergründig so aus. Das Besondere an diesem Satz ist nämlich gerade, dass er in gewisser Weise als buchstäblicher Abgesang auf das von der Sonatensatzform repräsentierte dialektische Prinzip der Synthese aus These und Antithese daherkommt. Und zwar aus folgendem Grunde:
ACHTUNG — das wird jetzt gleich ziemlich fachspezifisch. Wer von Euch sich das ersparen und stattdessen nur die Quintessenz daraus wissen will, kann einfach hier weiterlesen…
Zunächst beginnt der Satz mit einem tief in den Bässen verorteten und entsprechend düsteren Einleitungsthema, das hier zu hören ist. Daran schließt sich der aufgewühlt in Moll erklingende Hauptsatz an, der hier zu hören ist. Der Hauptsatz wird dann weiterentwickelt und gelangt nach einer kurzen Überleitung zu einem tänzerisch leichten, in heiterem Dur gehaltenen Seitensatz, der hier zu hören ist.
Soweit, so gut. Erstmal alles regelkonform: Hauptsatz düster in Moll, Seitensatz heiter in Dur. These und Antithese in Reinkultur. Aber wie sieht jetzt die Durchführung aus? Sie beginnt zunächst einmal mit dem Einleitungsthema aus der Exposition. Eigentlich nicht wirklich was Besonderes. Doch wo bleiben Haupt- und Seitensatz, die ja gerade hier verarbeitet werden sollen? Vom Hauptsatzthema ist stattdessen weit und breit keine Spur und auch das Seitensatzthema taucht nur kurz zwischendurch in Form einer Andeutung seiner charakteristisch-tänzerischen Begleitsynkopen auf. Es ist vielmehr ausgerechnet das bassig-bedrohliche Einleitungsthema, das hier immer weiter verkürzt, verdichtet und gesteigert wird, bis es schließlich in einer furios-dramatischen, teils an Mozarts Don-Giovanni, teils an Beethovens Fünfte erinnernden Sequenz kulminiert, die irgendwann abebbt und erschöpft der Reprise weicht. Das Ganze ist hier zu hören.
Schuberts ebenso erschütternde wie drastische Aussage lautet also: es gibt keine Synthese mehr — die Konfrontation bleibt von nun an bestehen! Die beiden kontrastierenden Themen werden praktisch nicht einmal angefasst, geschweige denn verarbeitet oder zueinander in Beziehung gesetzt. Und wie zur Bestätigung tauchen beide Themen dann in der Reprise nahezu unangetastet und damit in unveränderter Gegensätzlichkeit wieder auf, was in diesem Zusammenschnitt zu hören ist.
Wer das mal erkannt hat, dem wird unmittelbar klar, wie abgrundtief und radikal Schubert in diesem Satz mit der Sonatensatzform und den durch sie repräsentierten Idealen der Klassik gebrochen hat. In dieser Sinfonie steckt also weit mehr also „nur” eine geballte Ladung aufwühlender Emotionen einer höchst tragischen Figur. Ihre ganze Struktur ist nicht weniger als die endgültige Absage an alles, wofür die Ideale der Klassik stehen. Welcher Weltschmerz diesen jungen Mann dabei beseelt haben muss, lässt sich anhand dessen nur erahnen…
Selbst durchgeführt
Ok, ok. Wir wissen jetzt, dass Schubert mit dem ersten Satz seiner Unvollendeten den vom dialektischen Prinzip repräsentierten klassischen Idealen demonstrativ abgeschworen hat, indem er statt Haupt- und Seitensatz schlichtweg das ansonsten unbedeutende Einleitungsthema in der Durchführung verarbeitet und den Kontrast zwischen Haupt- und Seitensatz in der Reprise zudem schamlos aufrechterhalten hat. Aber was hat das jetzt alles mit der Durchführung meines eigenen bescheidenen Werks zu tun? Wieso sollte ich mich in der musikalischen Liebeserklärung an eine unbeschreiblich bezaubernde Frau ausgerechnet von einem Stück inspirieren lassen, das für den Zusammenbruch einer ganzen Epoche steht? Nein, es war natürlich nicht die musikalische Inkarnation des Weltschmerzes, die mich an diesem genialen Werk gereizt hatte. Wohl aber die Idee, das Einleitungsthema ins Zentrum der Durchführung zu stellen — wenngleich auf ganz andere Weise: als Basis für den Harmonieverlauf der Durchführung, die sich melodisch ganz konventionell aus dem Hauptsatz bedienen sollte. Ich setzte also zunächst in vager Anlehnung an Schubert eine gestreckte Version des Einleitungsthemas in den Bass:
Dann schnappte ich mir die ersten beiden Takte des Hauptsatzes:
Diese wollte ich in irgendeiner sinnvollen Form über die eben geschaffene Basslinie meiner Durchführung setzen. Als angehender Informatiker musste die zündende Idee dabei gar nicht lange auf sich warten lassen. Ich arrangierte das Ganze einfach in Zweierpotenzen, also in aufeinanderfolgenden Verdopplungen. Nachdem beide Takte zuerst in der Originalversion erklungen waren, sollte demnach anschließend jeder der beiden Takte erst je einmal, dann je zweimal, dann je viermal und schließlich je achtmal über den jeweiligen Basston gelegt werden, wobei mir beim Achtfachen dann schon nach der Hälfte die Basslinie ausging:
Den Abschluss der Durchführung sollte dann eine durch Einzeltakt-Verdopplung gestreckte Version der Schlussgruppe aus der Exposition bilden und bei dieser Gelegenheit wieder in die Grundtonart a‑Moll zurückleiten, nachdem die Durchführung selbst aufgrund des ersten Tons in meiner Basslinie (E) in e‑Moll begann. Im Ergebnis kam dabei das Folgende heraus:
Und damit war meine erste Durchführung auch schon geboren!
Es war dabei für mich ausnehmend spannend zu erleben, wie hier Hörgewohnheit, autodidaktische Musikbildung und nerdiges Informatikerdenken ineinandergriffen. Aus heutiger Sicht spiegelt sich darin ganz klar ein Grundmuster meiner Persönlichkeitsstruktur wider. Aber das mal nur so nebenbei. Mir gefiel dieses ziemlich formal aufgebaute Ergebnis dennoch gut, denn durch die zusätzlichen Halbtöne der oben erwähnten Sinti- und Romaskalen in der Basslinie wurde es erforderlich, sich (hauptsächlich auf Basis verminderter Vierklänge) harmonisch immer mal wieder von der Grundtonart zu entfernen, was nach meinem Empfinden ein hohes Maß an Spannung hervorbrachte und damit den Anforderungen an eine Sonatensatzform-Durchführung in besonderem Maße gerecht wurde.
Klar: vom Seitensatz war in der Durchführung keine Spur. Also doch ein bisschen was vom Bruch mit der Dialektik à la Schubert? Keineswegs. Auch bei Mozart gibt es sowas schon — etwa im ersten Satz seiner Sinfonie Nr. 25 (KV 183), die gerne auch als „kleine g‑Moll-Sinfonie” bezeichnet wird und die als Titelmelodie meines unangefochtenen Lieblingsfilms „Amadeus” besondere Berühmtheit erlangt hat. Die gesamte Durchführung enthält nichts, was thematisch auch nur an den Haupt- oder Seitensatz erinnert. Allerdings wird hier, anders als bei Schubert, kein scheinbar belangloses Einleitungsthema in den Vordergrund gestellt und am Ende kommt es in der Reprise selbstverständlich ganz konventionell zur Synthese beider Themen, die dort nämlich beide in Moll erklingen.
Nichtsdestoweniger war das Fehlen des Seitensatzmaterials in meiner Durchführung vor allem ein Tribut an die notwendigen Einschränkungen der spieltechnischen Anforderungen meines Stücks. Dieses Manko sollte sich erst gute dreißig Jahre später auflösen, als ich mich anschickte, diesen Satz in ein Streichquartett umzuarbeiten. Aber davon soll im nächsten Beitrag dieser Serie die Rede sein.
Wiederaufnahme
Im Jahre 1989 plagte mich vielmehr das Fehlen der noch verbleibenden Komponenten meines Sonatensatzes — vor allem die Reprise aber natürlich auch noch eine effektvolle Coda als krönender Abschluss des Ganzen.
Was die Reprise angeht, ist es zur Vermeidung aufkommender Langeweile üblicherweise so, dass der Hauptsatz nicht einfach wörtlich in seiner Gestalt aus der Exposition wiederholt wird. Stattdessen taucht er dort meist in abgewandelter, thematisch weiterentwickelter Form wieder auf. Um dies für mein Werk zu gewährleisten, begann ich daher zunächst einmal aus Wiedererkennungsgründen mit der wörtlichen Wiederholung des Hauptmotivs — also der ersten fünf Takte des Hauptsatzes. Anstelle der bekannten Weiterführung aus der Exposition fügte ich aber diesmal eine sogenannte Quintfallsequenz bestehend aus motivischen Fragmenten des Hauptsatzes an. Sie heißt so, weil der Grundton der dabei verwendeten Akkordfolge jeweils fünf Stufen (= Basistonleiter-Töne) unter dem vorhergehenden Grundton liegt und ist schon in der Barockmusik ein ausgesprochen häufig eingesetztes Stilmittel gewesen, das sich bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreut. So taucht sie zum Beispiel gleich am Anfang des ersten Satzes von Vivaldis a‑Moll-Violinkonzert (RV356) aber auch in Bart Howards legendärem Song „Fly Me to the Moon” von 1956 auf.
Für mein Hauptsatzthema führte ich die Quintfallsequenz allerdings nicht wieder in die Grundtonart, sondern aus rhetorischen Gründen zunächst in den Gegenklang zurück, wodurch ein sogenannter Trugschluss mit seiner höchst überraschenden Wirkung entsteht. Daran hängte ich dann noch eine kurze (vermutlich von diversen jiddischen Liedern inspirierte) Motivfolge mit einem weiteren Trugschluss an, die über eine sehr weit oben ansetzende absteigende Achtelfolge schließlich wieder in die erlösende Grundtonart mündete (wodurch also mal wieder eine Doppelkadenz entstand). Insgesamt kam dabei folgendes heraus:
Es fehlte jetzt noch die Wiederholung des Seitensatzes, der gemäß den Vorgaben der Sonatensatzform nun aber gerade nicht mehr die kontrastierende Dur-Wendung aus der Exposition nehmen durfte, sondern vielmehr im Sinne der dialektischen Synthese zur Angleichung an den Hauptsatz in Moll-Sphären zu verharren hatte. Auch hierfür bediente ich mich eines Trugschlusses, der bei Dur-Tonarten allerdings in die parallele Moll-Tonart führt. Von dort aus fügte ich eine absteigende Sequenz ein, die über einen reichlich exotischen f‑Moll-Zwischenschritt wieder zu a‑Moll führte. Im Ohr hatte ich dabei vermutlich eine bestimmte Stelle aus dem ersten Satz von Mozarts c‑Moll-Klavierkonzert (KV 491) — einem der fantastischsten Musikstücke, die je geschrieben wurden. Schließlich brachte ich das Ganze mit einer in Moll gehaltenen Abwandlung der entsprechenden Passage aus der Exposition über die Anfangsmotive des Hauptsatzes zur Grundtonart zurück. Der Seitensatz meiner Reprise stellte sich damit insgesamt so dar:
Wahnsinn! Auch meine erste Reprise war damit erschaffen — und für meinen eigenen Geschmack im Sinne der Anforderungen der Sonatensatzform auch noch ziemlich gut gelungen. Was jetzt allein noch fehlte, war eine ordentliche Coda — also die finale Überleitung zu einem furiosen Schlussakkord.
Zu guter Letzt
So ein Schluss steht ja bildlich gesprochen am anderen Ende des Anfangs eines Musikstücks, den in meinem Fall die einleitende Balalaika-Simulation bildete. Um dem Ganzen also eine Art Rahmen zu verleihen, schien es mir charmant, die Balalaika-artigen Klänge am Ende des Stücks wieder aufleben zu lassen. Ich ließ daher den Dreivierteltakt-Rhythmus im Bass über eine konventionelle viertaktige Kadenz weiterlaufen und setzte die Balalaika-Simulation einfach entlang der Dreiklangstöne meiner Grundtonart über diese viertaktigen Gruppen. Das Ergebnis klang dann so:
Rhetorisch klang diese Sequenz nach meinem Gefühl allerdings eher wie eine Art Hinleitung zur eigentlichen Schlusskadenz. Diese zwölftaktige Steigerung der Spannung verlangte demnach eindeutig nach einer befreienden Auflösung derselben als letztendliches Finale meines Werks. Ein beeindruckendes Beispiel für so etwas kam mir dann auch schon gleich in den Sinn: die Schlusskadenz aus dem ersten Satz des Klavierkonzerts Nr. 1 (Op. 15) von Johannes Brahms in d‑Moll (meiner unangefochtenen Lieblingstonart). Sie ist hier zu hören und beendet den furiosen Kopfsatz eines Klavierkonzerts, das meines Erachtens zum Besten gehört, was jemals für Klavier und Orchester geschrieben wurde.
Natürlich wäre es ebenso vermessen wie schlichtweg unpassend gewesen, meinem bescheidenen Klavierstück ein derart grandios angelegtes Finale zu spendieren — mal ganz abgesehen von der Forderung der leichten Spielbarkeit, die damit absolut hoffnungslos unterlaufen worden wäre. Aber der Grundcharakter dieser fulminanten Schlusskadenz erschien mir dennoch als passende Quelle der Inspiration für die Schlusskadenz meines eigenen kleinen Opus. So entschlackte ich ihn um alles, was ihn allzu opulent und vor allem viel zu schwer für mein eigenes Werk machen würde und beließ es weitgehend bei der Melodiebewegung und der Harmonie meines Vorbilds. Herausgekommen ist dabei das Folgende:
Ein würdiger Abschluss, wie ich damals fand. Und damit auch gleichzeitig der Abschluss meines kleinen Kompositionsprojekts!
Und nun?
Nun war mein Werk also tatsächlich vollendet und lag niedergeschrieben auf meinem Schreibtisch. Seinerzeit verwendete ich dazu allerdings keine grafisch bedienbaren Notensatzprogramme (die es übrigens sogar schon gegeben hätte). Stattdessen saß ich mit Notenpapier und Bleistift bewaffnet am Klavier und schrieb alles noch ganz brav per Hand auf:
Dabei erhob sich die Frage, in welcher Form ich das Ganze an die junge Frau meiner Träume überreichen sollte. Handgeschriebene Noten schön und gut — allein: man kann nicht von jedem verlangen, dass er Noten vom Blatt liest und sich dabei den Klang des Stücks realistisch vorzustellen in der Lage ist. Neben dem reinen Notentext musste also noch eine Einspielung her. Hier machte sich angenehm bemerkbar, dass ich das Stück stets in den Grenzen meiner eigenen Instrumentalfähigkeiten gehalten hatte. Also packte ich einen Kassettenrekorder aus und stückelte nach und nach eine Aufnahme meines Werks zusammen.
Die Jüngeren unter Euch mögen sich fragen, was ein Kassettenrekorder ist. Das war so ein Kasten mit einem Fach, in das man sogenannte Kompaktkassetten einlegen konnte, welche die eigentlichen Musikaufzeichnungen enthielten. Innerhalb einer solchen Kassette befand sich ein schmales Magnetband, das zwischen zwei Spulen hin und her gewickelt werden konnte. An einer Seite war die Kassette offen, so dass das Magnetband dort im Vorbeilaufen von einem magnetischen Schreib-/Lesekopf wahlweise magnetisiert (= beschrieben) oder abgetastet (= gelesen) werden konnte.
Dabei wurden Metallteilchen auf dem Band in Abhängigkeit vom Frequenzgang der aufzuzeichnenden Töne stärker oder schwächer magnetisiert, so dass man aus der Folge dieser verschiedenen Magnetisierungen hinterher wieder den Frequenzgang auslesen und in Klang umwandeln konnte. Das Ganze lief natürlich streng analog, hatte aber für uns in etwa die Funktion, die in den frühen 2000er-Jahren von MP3-Playern übernommen wurde und heute auf jedem Smartphone mittels entsprechender multimedia-Apps realisiert wird.
Soweit also der Kassettenrekorder. Das Zusammenschneiden meiner Aufnahme auf einer solchen Kassette lief natürlich nicht wie bei den Profis mit lauter unabhängigen Takes, aus denen man später die jeweils besten herausfiltert und mit entsprechender Studiotechnik nahtlos zusammengefügt. Vielmehr musste ich bei jedem kleinen Patzer (von denen es leider eine ganze Menge gab) zur letzten Stelle mit nennenswerter Pausenlänge zurückspulen, die Aufnahmetaste drücken und so schnell wie möglich weiterspielen, um den Eindruck einer kontinuierlichen Einspielung zu wahren.
Leider habe ich keine Aufnahme mehr von damals finden können und — ehrlich gesagt — es wäre nach über dreißig Jahren wohl auch kaum etwas darauf zu hören gewesen. So lange bleibt die Magnetisierung der kleinen Bänder in aller Regel nicht erhalten.
Sicher ist aber, dass die über alles bezaubernde Dame meines Herzens das Stück von mir in Form einer Kopie der Partitur und eben jener Kassette überreicht bekommen hatte. Und ich glaube, sie hat sich wirklich sehr gefreut. Ob sie dabei erahnt hat, wie viele Gedanken ich mir bei der Gestaltung meines Werks gemäß den obigen Ausführungen gemacht habe, ist nicht wirklich bedeutsam, denn eine der Besonderheiten von Musik ist ja gerade, dass sie sich auch dem unbedarften Hörer allein auf Basis ihrer emotionalen Wirkung erschließt. Und die hatte ich nach allem, was ich heute sagen kann, nicht verfehlt.
Übrigens: so ein Werk braucht natürlich auch noch einen Namen. Ich habe es damals in aller Schlichtheit „Sonata quasi una Fantasia” („Sonate — beinahe eine Fantasie”) getauft. Darin sollte sich der selbst auferlegte Anspruch niederschlagen, dass das Stück der Sonatenform folgt, wobei ich diesen Anspruch dann auch gleich wieder durch die Anfügung aufzuweichen versuchte, dass es sich dann doch beinahe um eine Fantasie handele (die ja gerade keiner besonderen Form folgt). So wollte ich jedweder Kritik an mangelnder Regeltreue bei der Umsetzung der Sonatensatzform von Anfang an vorbeugen (dabei mag es dahingestellt bleiben, wer sie überhaupt hätte äußern sollen). Aber so bin ich halt: immer gleich die potenzielle Kritik im Auge haben und a priori entkräften. Merkwürdiger Charakterzug…
Ach ja — ich habe ja noch ganz vergessen, Euch das Stück als Gesamtwerk zu Gehör zu bringen. Voilà:
Und für alle, die es selbst mal spielen wollen: die Noten könnt Ihr selbstverständlich gerne hier herunterladen und frei verwenden — wobei ich mir wünschen würde, dass meine Urheberschaft dabei Erwähnung findet.
So, Ihr Lieben, das war der Teil meiner kompositorischen Selbsterfahrungsgeschichte, der sich im Jahre 1989 abgespielt hatte. Wie und warum daraus über dreißig Jahre später der erste Satz eines anschließend um zwei weitere Sätze ergänzten Streichquartetts wurde, erfahrt Ihr im zweiten Teil dieser Beitragsserie. Ihr dürft also gerne gespannt bleiben.
Alles Liebe
Daniel